Kaltes Herz
gering.
«Wahrscheinlich ist es ohnehin nur ein Trick, irgendeine Einfärbung oder ein Bleichmittel», sagte er.
«Es ist kein Trick», sagte Henriette schlicht. «Er ist krank. Sieh dir seine Augen an. Er leidet.»
Charlie brannte eine ärgerliche Entgegnung auf der Zunge, woher wollte sie diese Gewissheit nehmen? Doch er sagte nichts.
Das Schicksal des sicherlich gefälschten Königs mit der möglicherweise echten Krankheit auf dem Thron vor ihnen ging Henriette nahe, und obwohl er es nicht wollte, spürte er, wie ihre Sorge um diesen Fremden ihn rührte. Sie war schuld, dass sein Herz, das er mit so viel Mühe widerstandsfähig gemacht hatte, nun weich wurde.
«Das ist keine Umgebung für einen kranken Menschen», sagte Henriette. Sie nahm Charlies Hand und zog ihn hinter sich her dem hellen Lichtfleck des Ausgangs entgegen. «Ich will wissen, wer dafür verantwortlich ist.»
«Henriette, warte!»
Sie blieb stehen, Ärger lag in ihrem Ausdruck, der zu sagen schien: Nun, worauf soll ich warten?
«Es ist die einzige Arbeit, die er bekommen kann. Wenn er hier nicht den weißen Neger spielt, dann steht er auf der Straße. Und glaub mir, das ist härter, als seine Tage auf einem falschen Thron zu verbringen. Er hat warme Mahlzeiten, einen sicheren Schlafplatz. Draußen wäre er Freiwild. Er würde nicht lange überleben.» Charlie musste Luft holen, bevor er matt fortfuhr. «Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Und hier», Charlie machte eine Geste, die das ganze Zelt umfasste, «ist er wenigstens unter Seinesgleichen.»
Henriette schien den Rest der Ausstellung erst jetzt zu bemerken. Außer dem weißen Neger gab es eine bärtige Frau zu sehen, einen menschlichen Käfer, der mit fiependen Geräuschen in einer Einfriedung herumkroch, und Zwillinge, gerade alt genug, um aufrecht zu sitzen, aber so groß wie zwölfjährige, überfütterte Kinder.
Als Charlies Blick zu Henriette zurückkehrte, hatte sie Tränen in den Augen. Er hatte es gewusst, seine Hand hatte es gespürt. Ihr Herz war zu groß, zu mächtig. Wenn man bei jedem Anblick von Leid oder Unrecht zu weinen begann – wie konnte man dann das Leben überstehen?
«Aber es sind doch trotz allem Menschen, oder?», wollte Henriette mit erstickter Stimme wissen.
Charlie nickte. «Ja, das sind sie, du hast recht. Du warst noch nie zuvor in einer Monstrositätenschau, oder?»
Henriette schüttelte den Kopf und sah ihn herausfordernd an.
«Und wer sind Sie, Mister Jackson?», flüsterte sie. «Sind Sie ein richtiger Mensch, oder sind Sie auch bloß eine seltsame, herzlose Monstrosität?»
Statt zu antworten, wollte Charlie sie wieder an sich ziehen. Nur standen sie jetzt nicht mehr in einer dunklen Ecke und wähnten sich allein, sondern sie waren mitten im Zeltrund zwischen den Besuchern, die herumgingen und mit den Fingern auf die menschlichen Monster zeigten. Und zudem, Henriette siezte ihn wieder.
Charlie griff nach ihrer Hand.
«Spielt das eine Rolle, Henriette? Zählt nicht allein, dass ich alles tun würde, um Sie glücklich zu machen?»
Charlie stellte fest, dass er meinte, was er gesagt hatte, und ein befreites Lachen stieg in ihm auf.
Henriette blickte auf den Saum ihres Kleides, Sägespäne hatten sich darangeheftet wie Krokant an den Rand eines Kuchens.
Sie antwortete, doch Charlie verstand ihre Worte nicht, sah nur ihre Lippen sich bewegen, weil in diesem Moment eine andere Stimme seinen Kopf ausfüllte, ein Junge schrie in eine Flüstertüte, keine zwei Meter neben ihnen.
«Verpassen Sie nicht Herculesse! Welcher Herr wagt es, gegen die stärkste Dame Berlins im Gürtelringen anzutreten? Wetten werden am Eingang entgegengenommen. Fünf Mark für den Sieger. Eintritt frei, Kinder die Hälfte!»
Es war ein Fehler gewesen hierherzukommen, es war ein Fehler gewesen, vor dem Mann mit dem Opernglas davonzulaufen. Charlie würde die Polizei verständigen. Schluss mit Versteckspiel und Abenteuer. Diese Sache war viel zu wichtig, um sie zu riskieren. Er musste Ordnung hineinbringen, er musste eine Arbeit finden. Er musste dafür sorgen, dass Henriette in London bei Mr. Postant vorsprach. Postant konnte sie an die besten Häuser der Welt vermitteln, und dann würde sie singen, und er … wagte nicht sich auszumalen, wagte nicht zu hoffen, welche Rolle er dabei spielen würde.
«Wollen wir uns den Ringkampf ansehen?», fragte Charlie.
«Lieber nicht», sagte Henriette matt.
Charlie war froh über diese Antwort. Er wollte sie wie eine Dame
Weitere Kostenlose Bücher