Kaltes Herz
ungeachtet der Gabel in ihrer Rechten.
«Hetti, nur ein Wort von Ihnen, und ich bin vernichtet. Meinen Sie, Sie könnten mich lieben?»
Hetti antwortete nicht gleich, doch dann schien sie einen Entschluss zu fassen. Sie entzog ihm ihre Hände und legte die Gabel neben den Teller.
«Ich weiß nicht, ob ich Sie liebe, Charlie. Ich weiß nur, dass Sie etwas mit mir machen, etwas, das … es ist fremd und aufregend, und manchmal denke ich, dass Sie gefährlich für mich sind. Und gleichzeitig ist es so, dass Sie der einzige Mensch sind … Bevor ich Sie getroffen habe, wusste ich nicht, wie allein ich bin. Und jetzt ertrage ich den Gedanken nicht, es wieder zu sein. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was ich damit meine.»
Charlie nickte.
«Doch, ich weiß genau, was Sie meinen.»
Und er wusste jetzt auch, was er zu sagen hatte und dass es der Wahrheit entsprach:
«Wir beide haben nämlich einen gemeinsamen Ort, jenseits von Zeit und Raum. Einen Ort, der nur uns gehört. Ich habe uns beide dort gesehen. Es liegt an der Musik.»
Charlie erschrak, als Tränen aus Hettis Augen schossen und sie sich sein Taschentuch vor den Mund presste, um ein Schluchzen zu unterdrücken.
«Aber an diesem Ort ist es immerzu Nacht», sagte sie leise. «Und trotzdem gibt es keinen Mond und keine Sterne. Nur Dunkelheit. Und mein ganzes Leben lang war ich dort immer allein.»
«Jetzt nicht mehr, Hetti. Ich sehe diesen Ort, wenn Sie singen, jeden Abend. Es gibt dort Berge und einen See, so kalt, dass es schmerzt. Und ich werde immer dort sein und auf Sie warten.»
Hetti sah ihn aus geweiteten Augen an.
«Sie machen mir Angst, Charlie Jackson. Sie und dieser Fremde. Wer sind Sie?»
Charlie konnte nicht anders, als zu lächeln, weil sie ihn so glücklich machte.
«Es liegt an der Musik, Hetti. Wir sprechen dieselbe Sprache. Ich habe meine Violine nicht mit nach Berlin nehmen können, und ich habe hier auch kein Piano zur Verfügung. Aber ich würde so gerne für Sie komponieren, ich würde so gerne diesen Ort für uns einfangen.» Charlie suchte erneut nach ihrer Hand, aber sie ließ nicht zu, dass er sie ergriff. «Ich würde Ihnen so gerne beweisen, dass ich Ihrer würdig bin.»
Hetti spießte eine Karotte auf, kaute gründlich, mit geschlossenen Augen. Charlie wusste, dass sie nach innen blickte, an jenen Ort, und wenn er von ihrem Gesicht nicht so fasziniert gewesen wäre, wäre er ihr gefolgt.
«Am ersten Tag, als wir uns begegnet sind», sagte sie schließlich, «da sagten Sie mir, Sie verfolgen diesen Fremden. Aber es scheint mir genau andersherum zu sein. Und nun sind Sie gar Komponist. Wie hängt das alles miteinander zusammen?»
Charlie verstand ihre Zweifel, er hätte niemals mit dem Lügen anfangen dürfen. Eine Lüge zog so leicht weitere Lügen nach sich, und dann wurde es immer schwieriger, zur Wahrheit zurückzukehren. Und dennoch war er glücklich.
«Ich werde einen Weg finden, mir Ihr Vertrauen zu verdienen.»
«Aber ich vertraue Ihnen», sagte Hetti erstaunt und öffnete die Augen. «Vielleicht mehr als mir selbst.» Sie seufzte. «Ich vertraue Ihnen, hören Sie?»
Charlie nickte.
«Gut», sagte Hetti. «Dann lassen Sie uns jetzt endlich essen. Bevor es ganz kalt wird.»
Wie leicht sie ihre niedergedrückte Stimmung, das Aufgewühltsein und den Schrecken hinter sich lassen und wieder fröhlich sein konnte. Sie war mit ihren siebzehn Jahren mehr Kind, als Charlie es in seinem ganzen Leben gewesen war. Charlie zwang sich, es ihr gleichzutun und ordentlich zu essen.
«Sie sagten, Sie waren ein Gassenjunge. Sind Sie in London aufgewachsen?»
«Ja, in London», sagte Charlie.
«Erzählen Sie», bat Hetti.
«Ich … meine Mutter ist früh gestorben. Und mein Vater hat getrunken.»
Charlie schwieg, wartete auf den nächsten Satz. Es fiel ihm schwer, über seine Vergangenheit zu sprechen. Nicht nur wegen der von der Wassersucht aufgedunsenen Leiche seines Vaters. Sondern wegen allem.
«Es tut mir leid, ich will nicht in Sie dringen», sagte Hetti.
«Nein, mir tut es leid. Ich werde es Ihnen erzählen», sagte Charlie. Er wollte mehr über sie erfahren, also würde er etwas über sich erzählen müssen. «Es ist im Grunde eine ganz normale Geschichte. Mein Vater hat den Tod meiner Mutter nicht verwunden, sie ist an einer Infektion gestorben. Er hat dann angefangen zu trinken und konnte sich nicht mehr um mich kümmern. Mit neun Jahren musste ich mich selbst versorgen. Ich habe getanzt und gesungen, ich war
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