Kaltherzig
Erinnerungen an meine ersten zwanzig Lebensjahre stiegen wie eine Flutwelle in mir auf.
Zorn, Auflehnung, Schuld, das vernichtende Gefühl der Unzulänglichkeit, das mich jedes Mal überkam, wenn er mich mit diesem kalten, missbilligenden Blick ansah. Derselbe Blick begegnete mir nun, da er an einem Tisch mit einem Vergewaltiger und wahrscheinlichen Mörder saß, der mein Leben vor zwanzig Jahren in Trümmer gelegt hatte.
»Elena«, sagte er mit dem üblichen Anflug von Herablassung, als wäre er ein König, der geruht, mit einem Gemeinen zu sprechen.
Meine Augen brannten, und ich war auf mich selbst wütend deshalb. Aber mir blieb nur dieser Sekundenbruchteil, darüber nachzudenken, denn die anwesenden Foto- und Videokameras, die meinen Vater und Bennett in die Spätnachrichten bringen würden, schwenkten zu mir herum, als die Journalisten begriffen, wer ich war.
Ich saß in der Falle. Ich konnte gehen und wie ein Feigling dastehen, oder bleiben und mich mit beiden auseinandersetzen. Eigentlich hatte ich keine Wahl.
Ich holte tief aus meinem Innern die Kraft, Haltung zu bewahren.
Er war keine vier Meter entfernt. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, dann noch einen.
»Edward«, sagte ich und ahmte seinen Tonfall exakt nach.
Ich sah das fast nicht wahrnehmbare Zucken in seinem Kiefer. Ich hatte mit zwölf aufgehört, ihn Vater zu nennen, eine Auflehnung, die er hasste. Ich verweigerte ihm jede Unterwürfigkeit. Er hatte mich wieder und wieder für meine Respektlosigkeit bestraft. Ich war nie eingebrochen. Die Pferde waren ohnehin das Einzige, was mir etwas bedeutete, und ich wusste, dass er mir die niemals wegnehmen würde, weil es auf ihn zurückfiele und ihn wie den Tyrannen aussehen ließe, der er war.
Ich blickte kurz zu Bennett, dann zurück zu Edward.
»Genau wie in den alten Zeiten«, sagte ich. »Bennett zerstört das Leben einer Frau, du verteidigst seine Taten, und ich finde mich auf der Seite des Rechts wieder.«
Er war wütend auf mich, aber er würde es nie öffentlich zeigen. Er stand auf wie ein Gentleman. Bennett blieb sitzen und zog eine Schnute.
»Sei vorsichtig, Elena«, sagte mein Vater sehr leise.
»Vorsichtig?«, wiederholte ich so, dass es jeder hören konnte. »Wieso? Drohst du mir?«
»Du solltest besser keine verleumderischen Äußerungen machen«, sagte er mit der ruhigen Stimme, die er vielleicht einem kleinen Kind gegenüber benutzen würde.
Ich lachte. »Es ist nur dann Verleumdung, wenn es nicht stimmt.«
Kameraverschlüsse und -motoren liefen heiß.
Er schüttelte traurig den Kopf. »Wirklich schade, dass du so verbittert geworden bist.«
Der gütige Monarch. Meine Fresse.
»Wie kannst du enttäuscht sein?«, fragte ich ruhig. »Ich bin exakt das, was du aus mir gemacht hast.«
Er seufzte, wie es an Kummer gewöhnte Eltern tun. »Du
solltest dich nicht aufregen, Elena. Es ist nicht gut für dich.«
Womit er andeutete, dass ich psychisch nicht ganz stabil war.
»Tja, Vater «, sagte ich mit so viel Gift in der Stimme, dass er das Wort bestimmt nie wieder hören wollte, »immer wenn ich denke, du kannst mich unmöglich noch mehr enttäuschen, als du es schon getan hast, fällt dir doch noch etwas ein. Gratuliere.«
Ich wandte ihm den Rücken zu und ging fort.
»Ich sage deiner Mutter Grüße von dir«, rief er mir nach. »Wenn du es willst.«
Ich ging einfach weiter. Es war mir wirklich egal, ob ich für ein undankbares Kind gehalten wurde. Man hatte schon weit Schlimmeres von mir gedacht.
»Ms. Estes!«
»Ms. Estes!«
Ich hob die Hand, um klarzumachen, dass ich nicht beabsichtigte, mit den Medien zu sprechen. Sie versuchten nicht, mir auf die Damentoilette zu folgen.
Dort traf mich das Schwindelgefühl mit voller Wucht, ich zitterte, der Schweiß brach mir aus. Ich übergab mich, spülte mir den Mund aus und spritzte mir Wasser ins Gesicht. Ich sah nicht in den Spiegel, aus Angst, was ich in meinen Augen entdecken könnte - Verletzlichkeit. Dafür hätte ich mich gehasst.
Ich spülte mir noch einmal den Mund aus und wühlte ein Atembonbon aus meiner Handtasche.
Als ich schließlich wieder in den Flur hinaustrat, war ich allein. Die Schakale waren alle zurückgelaufen, um vielleicht ein wenig Fleisch von meinem Vater reißen zu können.
Ich wandte mich der Terrasse zu, und dort stand Barbaro und blickte mich an.
Ich sah rot, steuerte direkt auf ihn zu und baute mich nahe vor seinem Gesicht auf. »Sie stinkender Hurensohn«, sagte ich, bemüht, nicht zu
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