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Kaltherzig

Titel: Kaltherzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tami Hoag Fred Kinzel
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keine Rolle. Sie war allerdings schon eine ganze Weile marschiert.
    Sie war noch nie allein in die Wildnis gegangen. Die Vorstellung hatte ihr immer Angst gemacht. Ganz anders Irina. Irina hatte immer über ihre Angst vor Schlangen und Alligatoren gelacht und sie überredet mitzukommen. Irina wusste, wie befreiend es war, Angst zu spüren. Lisbeth fing gerade erst an zu begreifen, was das bedeutete.
    Sie wusste, wohin sie ging, weil der Ort in den letzten Tagen unter Reitern und Stallarbeitern und von den Medien in allen Einzelheiten beschrieben worden war. Es war zu einer Art Wallfahrt geworden, den Ort aufzusuchen, an dem man Irina gefunden hatte, an dem ihr Körper zerstört worden war. Es war nichts weniger als ein heiliger Ort für sie.
    Sie hatte Irina angebetet, die so klug war, so raffiniert, so kühn, so tapfer …
    Sie hatte Irina geliebt wie noch nie jemanden zuvor in ihrem Leben. Sie hatte Irina gebraucht. Irina war ihre
große Schwester gewesen, ihre Freundin, ihre... ihr Mentor. Irina war alles gewesen, was Lisbeth nicht war.
    Lisbeth hatte versucht, es Irina möglichst gleichzutun - locker und unbekümmert zu sein, sorglos und elegant; dem Leben ins Gesicht zu blicken und boshaft zu grinsen.
    Alles wäre perfekt gewesen, wenn es nur sie beide gegeben hätte.
    Komisch, dachte sie. Als sie nach Südflorida gekommen war, hatte sie so ganz andere Vorstellungen davon gehabt, was sie vom Leben erwartete. Sie hatte sich das gewünscht, was man sie zu wünschen gelehrt hatte - einen Mann, Familie -, obwohl sie aus früherer Erfahrung mit Männern bereits gewusst hatte, dass sie keine Garanten für Glück waren, dass Liebe eine hasserfüllte, beängstigende Sache sein konnte.
    Und sie hatte diese Lektion wieder und wieder gelernt …
    Irina hatte sie unter ihre Fittiche genommen. Irina war ihre einzige wahre Freundin und ihre Beschützerin gewesen - hatte sie jedenfalls gedacht.
    Nie in ihrem Leben war Lisbeth mit einer anderen Frau zusammen gewesen oder hatte auch nur daran gedacht. Sie war dazu erzogen worden, es für falsch zu halten. Aber mit Irina hatte es sich richtig angefühlt, sie hatte sich sicher gefühlt und - von ihren provinziellen Schuldgefühlen abgesehen - glücklich.
    Lisbeth blieb stehen, beugte sich vornüber und hustete, dann füllte sie ihre schmerzenden Lungen mühsam mit Sauerstoff. Sie setzte sich für einen Moment auf einen Zypressenstumpf, um sich auszuruhen.
    Die Nacht war klar und warm. Wimmelte vor Leben,
wenn man sich die Mühe machte, es zu bemerken. Sie machte sich die Mühe. Sie lauschte den Fröschen, dem Kreischen und den Ratschengeräuschen der Sumpfvögel.
    Es waren natürlich die Tiere, die man weder sah noch hörte, die die meiste Gefahr in sich bargen. Liebe war ein solches Tier. Und Eifersucht. Und Schmerz.
    Lisbeth saß auf dem Baumstumpf an dem schwarzen, öligen Kanal und wartete darauf, dass sie zu ihr kamen.

68
    »Barbaro hat mir erzählt, dass Irina keinen Hehl daraus machte, wie sie die Kerle in jener Nacht zu unterhalten gedachte«, sagte ich. »Lisbeth flehte Irina an, nicht mitzufahren, aber Irina fuhr trotzdem mit.«
    »Du glaubst, Lisbeth kam später zurück, um Irina zur Rede zu stellen?«, fragte Landry. »Und da hat Barbaro sie dann gesehen.«
    Er bog in die Einfahrt und parkte neben meinem Wagen vor dem Gästehaus.
    Ich empfand ein schreckliches, drängendes Gefühl, als ich aus dem Auto stieg. Die Müdigkeit, die mich zuvor im Griff gehabt hatte, wurde von einer neuen Welle Adrenalin verdrängt.
    Lisbeth war irgendwo allein. Mein Gefühl sagte mir, dass Lisbeth sehr lange allein gewesen war. Vielleicht lag darin der Grund für die Sympathie, die ich für sie empfand - weil ich beim Blick auf Lisbeth Perkins all das sah, was mir das Leben schon vor langer Zeit ausgebrannt hatte.

    Ich rief ihren Namen, als ich ins Haus ging, obwohl ich wusste, dass sie nicht antworten würde.
    Trotz ihres hundserbärmlichen Zustands von der Tortur in der Nacht zuvor hatte ihre mittelwestliche Arbeitsethik ihr nicht erlaubt, das Haus eines Gastgebers unordentlich zu verlassen. Sie hatte das Bett gemacht und die Kissen aufgeschüttelt.
    Der Brief in Lisbeths fröhlicher, verschnörkelter Mädchenhandschrift lag an die frühlingsgrüne Nackenrolle gestützt.
    Ich las ihn, und eine tiefe Mutlosigkeit erfasste mich.
    Sie dankte mir für meine Hilfe.
    Sie dankte mir, weil ich Irina eine gute Freundin gewesen war.
    Sie entschuldigte sich für alles, was sie falsch gemacht

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