Kampf der Gefuehle
zu einem lautlosen Schrei aufgerissen, über ihre Wangen strömten Tränen. Ihre Haube rutschte ihr vom Kopf, so dass sie, nur noch an den Bändern hängend, gegen ihren Rücken klatschte. Sie raffte beim Rennen die Röcke, ohne darauf zu achten, dass ihre Unterröcke und ihre Knöchel sichtbar wurden. Als sie die Bahre mit dem jungen Mädchen erreichte, fiel sie stöhnend auf die Knie. Gleichzeitig packte sie die Träger beim Arm und zwang sie, die Bahre abzustellen. Mit aufgerissenen, von Tränen erfüllten Augen betrachtete sie die Leiche des Mädchens, streichelte mit zitternder Hand die wächserne Wange und warf sich anschließend mit lautem Schluchzen über die Bahre.
Ariadne stand wie erstarrt da. Bei der Frau handelte es sich um diejenige, die in Maurelles Loge gekommen war, um die Frau, die sich ihre Mutter nannte. Sie hatte gesagt ... was hatte sie noch einmal gesagt? Dass ihr Mann und ihre Tochter heute Abend in der Stadt eintreffen würden, dessen war Ariadne sich fast sicher. Das Mädchen auf der Bahre musste also ihre Halbschwester sein.
»Sie fühlen sich offenkundig nicht wohl. Soll ich eine Mietdroschke holen?«
Gavin Blackford nahm ihre Hand von seinem Arm und legte ihr diesen, während er ihre Hand festhielt, um die Taille. Sie spürte, wie die Wärme seines Arms bis zu ihrer kalten Haut durchdrang, und war ihm im ersten Moment dankbar, dass er sie stützte. »Nein«, erwiderte sie, derweil sie gequält erschauderte. »Bringen ... Sie mich einfach weg. Bringen Sie mich sofort weg.«
Ohne etwas zu entgegnen oder Fragen zu stellen, führte er sie von diesem Schauplatz des Leids und Entsetzens fort. Auch dafür war sie ihm dankbar.
Den Rest des Tages verlebte Ariadne wie im Traum. Nachdem sie das Stadthaus erreicht hatten, übergab der Fechtmeister sie Maurelles Obhut und verabschiedete sich höflich. Als ihre Gastgeberin erfuhr, was sie erlebt hatte, floss sie vor Besorgnis über und bestand darauf, dass Ariadne sich hinlegte. Überdies verkündete sie, dass sie ihr zur Beruhigung einen Kräutertee zubereiten werde. Später am Nachmittag schickte Maurelle jemanden los, um in Erfahrung zu bringen, wie es Ariadnes Mutter ging. Dabei stellte sich heraus, dass auch ihr Stiefvater, Monsieur Arpege, bei dem Unglück umgekommen war. Ihre Mutter und die Tochter, die sie in die Gesellschaft hatte einführen wollen, hatten sich in ihr Hotelzimmer zurückgezogen und empfingen keine Besucher. Den Bediensteten des Hotels zufolge waren sie völlig verstört und zu sehr vom Kummer überwältigt, um schon entscheiden zu können, ob das Doppelbegräbnis in der Stadt stattfinden sollte oder ob die Leichen zurückgeschafft und auf dem heimatlichen Friedhof bestattet werden sollten.
Ariadne war, was ihr eigenes Verhalten betraf, ebenso unschlüssig. Ihre Mutter würde sie nicht wie verabredet aufsuchen. Da sie sich vor dieser Unterredung gefürchtet hatte, hätte es sie eigentlich erleichtern müssen, dass ihr die Begegnung erspart blieb. Merkwürdigerweise war das nicht der Fall. Irgendetwas in ihr bedauerte, dass ihr die Gelegenheit entging, mehr über die Frau herauszufinden, die sie zur Welt gebracht hatte. Irgendetwas in ihr wollte unbedingt in Erfahrung bringen, warum sie seinerzeit wie das unerwünschte Kätzchen aus einem Wurf abgeschoben worden war.
Sollte sie einen Beileidsbesuch machen und ihre Visitenkarte dalassen, falls man sie nicht vorließ? Oder sollte sie die Sache einfach auf sich beruhen lassen? Die Blutsverwandtschaft war zweifellos vorhanden, und es stand außer Frage, dass der Anstand bestimmte Dinge gebot. Andererseits hatte sie ihren Stiefvater und die Töchter, die ihre Mutter ihm geschenkt hatte, nie kennengelernt. Ihre Mutter hätte schon früher zu ihr Kontakt aufnehmen können, aber würde sie ein Treffen jetzt wünschen? Inwiefern konnte Ariadne ihren Blutsverwandten in dieser Situation von Nutzen sein? Welchen Trost vermochte sie zu spenden? Irgendwie kam es ihr wie reine Heuchelei vor, einen solchen Besuch zu machen, nachdem sie zunächst fest entschlossen gewesen war, derlei zu ver-
meiden. Und wollte sie wirklich in das Leben ihrer Verwandten einbezogen werden? Schließlich hatte sie ihre eigenen Sorgen und Pläne.
Was verlangten die gesellschaftlichen Konventionen in dieser Situation von ihr? Kamen ihre Pflichten als Tochter dabei mit ins Spiel?
Dieses Abwägen der ihr zu Gebote stehenden Möglichkeiten machte sie fast verrückt. Sie wusste partout nicht, was sie wollte,
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