Kampf der Gefuehle
geschweige denn, was von ihr erwartet wurde. Gleichwohl hatte sie das Gefühl, dass sie etwas unternehmen musste.
Sie vermochte die Szene, die sie beobachtet hatte, einfach nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen. Der Kummer ihrer Mutter stand ihr ständig vor Augen, lastete auf ihr. Ihre offenkundige innige Zuneigung zu dem toten Mädchen, ihr Entsetzen und ihre Verzweiflung angesichts der Grausamkeit ihres Todes waren herzzerreißend gewesen. Ariadne drängte sich die Frage auf, ob ihre Mutter wohl auch nur halb so verzweifelt gewesen war, als man sie, Ariadne, der Familie Dorelle übergeben hatte. Gewiss, sie war nicht gestorben, aber andererseits hatte ihre Mutter sie damals ja ebenfalls unwiderruflich verloren. Aus irgendeinem Grund hatte Ariadne nie darüber nachgedacht, was ihre Mutter dabei empfunden hatte, als sie sie weggab. Sie hatte immer angenommen, dass ihre Mutter froh gewesen sei, einer Last ledig zu sein.
Das brauchte nicht zu stimmen. Vielleicht hatte sie ja gelitten.
Hatte sie ihre Mutter all die Jahre falsch beurteilt?
Was hatte sie sonst wohl noch falsch eingeschätzt?
Vor lauter Verwirrung tat Ariadne der Kopf weh. Sie
war sich nicht sicher, ob sie imstande sein würde, das Stadthaus zu verlassen, weil sie befürchtete, dass ihr unterwegs schlecht werden könnte. Ständig war sie den Tränen nahe, obwohl sie doch angenommen hatte, nicht mehr weinen zu können, nachdem sie so viel um Francis und Jean Marc geweint hatte.
Sie erhob sich vom Bett und ging zum Kleiderschrank, wo sie ihre Kostüme beiseite schob, um an einen länglichen Kasten zu gelangen, der im hinteren Teil des Schranks lag. Nachdem sie ihn herausgenommen hatte, trug sie ihn zum Bett. Es war ein kunstvoll gearbeiteter Degenkasten aus glänzend poliertem Ebenholz mit Silberintarsien. Sie öffnete den Verschluss, hob den Deckel an und klappte ihn zurück.
Der mit schwarzem Samt ausgeschlagene Kasten enthielt zwei identische Rapiere, wie man die überlangen Degen traditionellerweise beim Duell benutzte. Die Waffen waren wunderschön gearbeitet. Der Griff war mit Leder umwickelt, der Korb aus gebläutem Stahl mit Silberintarsien überzogen. Der obere Teil der Klinge wies das Zeichen des Herstellers, eine Lilie, auf und war außerdem mit einem Rankenmuster geschmückt. Sie hatte das Set in Paris gekauft, wo sie es im Schaufenster eines Waffengeschäfts entdeckt hatte. Die Rapiere übten einen unwiderstehlichen Reiz auf sie aus, den sie nicht zu erklären vermocht hätte, selbst wenn ihr Leben davon abgehangen hätte. Der Erwerb dieser Waffen hatte ihrer unbestimmten Idee, Francis' Tod zu rächen, konkrete Form verliehen.
Sie strich über die Ziselierung der einen Klinge und dachte an Gavins Unterstellung, der Fechtsport ziehe sie an, weil sie solch schöne Metallarbeiten liebe. Damit lag
er möglicherweise gar nicht falsch, obwohl auch die tödliche Kraft, die der Stichwaffe innewohnte, etwas in ihr ansprach. So wenig damenhaft solche Dinge auch sein mochten - dass sie die Mittel besaß, sich selbst zu schützen und Kränkungen zu rächen, gab ihr ein Gefühl von innerer Stärke.
Würde sie sich wirklich dazu verstehen können, eine dieser Klingen zu benutzen? Die Wut, die sie angetrieben hatte, schien nachgelassen zu haben. Alles war komplizierter, als es von einem anderen Kontinent aus ausgesehen hatte. Die Niedergeschlagenheit, die sie infolge der Tragödie des heutigen Vormittags befallen hatte, ließ die ganze Sache weniger gewichtig erscheinen.
Doch diese Unsicherheit würde vorübergehen, davon war sie fest überzeugt. Die Frage war, was sie empfinden würde, wenn sie vorüber war. Nachdem sie den Degenkasten wieder geschlossen hatte, stellte sie ihn in den Schrank zurück.
Im Laufe des Tages war der Himmel immer finsterer geworden, so dass schon am Nachmittag Kerzen und Lampen angezündet werden mussten. Um die Unentschlossenheit, die sie befallen hatte, zu überwinden, zog Ariadne sich an und ging mit ihrer Handarbeit, einem Kaminschirm in Petit point, in den Salon.
Maurelle war nicht da. Adele, auf die Ariadne in der Galerie stieß, teilte ihr mit, dass Maurelle nach dem anstrengenden Vormittag und dem sich öde hinziehenden Nachmittag schläfrig geworden sei und sich zu Bett begeben habe.
Vor dem Kaminfeuer sitzend, machte Ariadne ein paar Stiche auf ihrer Leinwand, doch sie vermochte ihrer Beschäftigung nicht allzu viel Interesse abzugewinnen. Als
es zu regnen begann, legte sie die Handarbeit beiseite, ging zum
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