Kanada
unser »Prince Charming« auf seiner berühmten Bahnfahrt nach Sask anno ’19 zu sehen (vor zwanzig Jahren! Himmel!). Du wirst Dich nicht daran erinnern. Aber Dein Dad und Deine Oma und ich haben Dich in Deinem kleinen Kammgarnanzug ans Bahngleis in Regina gestellt, und Du hast eine kleine kanadische Fahne geschwenkt. Ich glaube, darum bist Du so patriotisch. Einen anderen Grund gibt es ja wohl kaum. Pass auf Dich auf. Warte auf meine Postkarte, sie passt nicht in den Umschl., ohne ihn kaputtzumachen. Dein Dad schickt nur das Beste – was ich nie zu sehen kriege.
Alles Liebe, Küsse,
Deine Mum
Ich wühlte tiefer in der Kiste nach der Postkarte mit »Prince Charming«, um zu sehen, wer das wohl war. Aber weiter unten gab es nur noch mehr verschnürte Stapel – von Weihnachtskarten und trockenen Zeitungsausschnitten mit Bildern von lächelnden Männern mit Bürstenhaarschnitt und im Hockey-Trikot. Ganz unten lagen ein paar lose Bilder von splitternackten Frauen, die neben verzierten Podesten mit Blumenarrangements oder neben Tischen voller Bücher posierten. Die Frauen waren üppig und lächelten so glücklich, als hätten sie Kleider an. Solche Bilder hatte ich noch nie gesehen, ich wusste allerdings schon von meinen Klassenkameraden, dass es das gab. Auf dem Jahrmarkt konnte man sie aus einem Automaten ziehen. Ich versteckte sie unter meiner Pritsche, verbrachte eine ganze Weile damit, jedes genau zu studieren, und legte schließlich drei davon in mein Buch der Welt , Band B, denn ich wusste schon, dass ich sie mir wieder würde anschauen wollen. Das wollte ich auch wirklich und tat es später. Ich behielt sie jahrelang.
Außerdem fand ich ganz unten im Karton eine Brille mit Drahtgestell und einen schlichten goldenen Ring. Der Ring lag in einer gelben Dose von Bayer Aspirin, zusammen mit zwei glattgeriebenen Aspirintabletten und einer Anhänger-Nachbildung des Eiffelturms. Ich wusste, dass in dieser Dose ein Ring war, noch bevor ich sie öffnete, keine Ahnung, woher. Da ist bestimmt ein Ehering drin , hätte ich beinah zu mir gesagt. Natürlich begriff ich, dass er für einen Verlust in der Vergangenheit eines anderen Menschen stand, etwas Ungutes.
Die meisten Kartons ging ich nicht gründlich durch. In einem waren Zeitungen aus Regina. In einem anderen lag schlammverschmierte Kleidung, mit Schuhen, die die Mäuse zerfetzt hatten. In wieder einem anderen befanden sich Dokumente und Quittungen und Abrechnungen über Weizensaat und Silo-Gebühren und den Kauf eines neuen Traktors der Marke Waterloo Boy. Im nächsten fanden sich Stapel ungeöffneter Drucksachen, die mit den Wahlen von 1948 in Saskatchewan zu tun hatten, mit der CCF-Partei und dem »Sozialen Kredit«. Ich versuchte mir vorzustellen, wie viele Leben Einzelner oder ganzer Familien hier in meinem Haus auf einem Haufen lagen. Sehr viele, dachte ich – als hätten sie gehofft, eines Tages aus ihrer Gegenwart zurückzukehren und darauf Anspruch zu erheben. Stattdessen waren sie gestorben. Oder hatten vielleicht beschlossen, jenes Leben hinter sich zu lassen und es lieber woanders noch mal neu zu versuchen.
Aber ich fragte mich, was Arthur Remlinger damit gemeint hatte, als er sagte, Amerikaner könnten einen Ort wie Partreau niemals einfach bestehen lassen, sondern würden ihn, weil er wie eine Anklage gegen den Fortschritt wirkte, niederbrennen. Während ich die Kisten wieder vor die zugige Wand meiner Küche zerrte und aufstapelte, kam ich zu dem Schluss, dass er wohl recht hatte. Meine Eltern, die kaum etwas besaßen, unbeständig waren, nie ein eigenes Haus hatten, wenig mit durchs Leben nahmen und deren paar Siebensachen (bis auf Berner und mich) auf der städtischen Müllhalde von Great Falls gelandet waren – meine Eltern waren solche Menschen, die Arthur Remlinger gemeint hatte, denen Partreau völlig gleichgültig gewesen wäre, auch wenn sie es nicht gleich niedergebrannt hätten. Sie liefen vor ihrer Vergangenheit weg und blickten nur zurück, wenn es gar nicht anders ging; ihr ganzes Leben hing immer irgendwo in der Luft.
49
Jetzt lernte ich vieles auf einmal: wie man Gänsegruben anlegte, die nicht zu früh von der Morgensonne erreicht wurden, aber doch hoch genug lagen, dass die Sportsfreunde hinausspähen konnten und für die vom Fluss her auffliegenden Gänse bereit waren. Ich lernte, die schweren Holzlockvögel links und rechts der Gruben zu installieren und eine Landefläche frei zu lassen, die die Gänse dazu einlud, sich
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