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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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Vernunft noch Weisheit.« Das konnte ich weder zuordnen noch verstehen. Neben der Tafel hing an einem Holzhaken ein Lederholster mit einem komplizierten Geschirr aus Riemen und Schnallen, wie ich es aus Gangsterfilmen kannte: ein Schulterhalfter. Drinnen steckte eine silberne Pistole mit kurzem Lauf und weißem Griff.
    Ich zog die Pistole natürlich sofort heraus (die Tür hatte ich vorher schon abgeschlossen). Für ihr kleines Format war sie unerwartet schwer. Ich schaute durch den Schlitz hinter dem Zylinder und stellte fest, dass sie mit mindestens fünf Patronen mit Messingboden geladen war. Es war eine Smith and Wesson, das Kaliber wusste ich nicht. Ich hielt mir die Mündung unter die Nase, wie ich es auch aus dem Kino kannte. Sie roch nach Metall und dem würzigen Öl, mit dem sie gereinigt wurde. Der kleine Lauf war glatt und glänzend. Ich legte auf das Bahndepot draußen an, auf die Gleise mit den Getreidewaggons, die in der Sonne standen. Dann trat ich hastig vom Fenster weg, aus Angst, entdeckt zu werden. Die Pistole hing nach meinem Gefühl unmittelbar mit der Bedeutung und der »Sache« zusammen, die ich Arthur Remlinger zuschrieb – mehr als alles andere in seinen Zimmern. Auch mein Vater war ja im Besitz einer Pistole gewesen – ich hatte ihm nie abgenommen, dass sie verlorengegangen war, und glaubte jetzt felsenfest, dass er sie bei dem Bankraub benutzt hatte. Ihm verlieh sie nichts Außergewöhnliches – schließlich hatte er sie gratis von der Air Force bekommen. Bei Arthur Remlinger aber war es so, und wieder überkam mich das unbehagliche Vorgefühl – dass er als Mensch fremd und unberechenbar war. In meinem Kopf gehörte dieses Empfinden eng zu meiner Reaktion auf den Bankraub meiner Eltern und seine furchtbaren Auswirkungen auf Berner und mich. Und genauer hätte ich auch nicht sagen können, was mich in diesem Augenblick bewegte. Die Pistole schien mir jedenfalls ein sehr greifbares und gefährliches Objekt zu sein. Wobei Arthur Remlinger auf mich gar nicht wie der Typ Mann wirkte, der eine Pistole besitzt. Er kam mir zu kultiviert vor – aber da irrte ich mich offensichtlich. Ich wischte den Griff an meinem Hemd ab, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, und steckte die Pistole zurück ins Halfter. Ich hatte in den Räumen kein bisschen saubergemacht, wie ich es sollte, und würde später noch einmal wiederkommen müssen. Aber plötzlich hatte ich Angst, erwischt zu werden. So dass ich die Tür zum Korridor aufschloss, hinausspähte und, als ich nichts entdecken konnte, schnell wieder nach unten ging, zu meinen anderen Pflichten.

48
    Als noch kälteres Wetter heranzog und die Sportsfreunde einzutrudeln begannen, Anfang Oktober (erst dann durften die Amerikaner schießen), befahl mir Charley, mich jetzt voll und ganz der »Gänsearbeit« zu widmen. Ich wohnte seit über einem Monat in meinem Schuppen in Partreau, die Zeit schien stillzustehen und war mir sowieso ziemlich egal – anders als vor zwei Monaten, als der Schulanfang immer näher rückte und ich mir wünschte, ich könnte das lange, langsame Vergehen der Tage ebenso beherrschen und besiegen wie Michail Tal einen Schachgegner.
    Ich gewöhnte mich immer mehr an mein kleines Zweizimmerhaus. Den Abort musste ich nun benutzen – aber ich vergewisserte mich vorher immer, dass Charley mich nicht dabei sah, und blieb auch nie lange drin. Es gab Strom für meine Herdplatten und die Deckenlampe und für ein bisschen Heizungswärme. Bei dem eisigen Wind konnte ich mir nicht mehr draußen an der Pumpe das Gesicht waschen. Aber ich holte mir jetzt abends immer einen Eimer voll Wasser in den Schuppen und wusch mich mit Hilfe eines Blechkochtopfs, den ich aus einer Müllgrube ergattert hatte, schrubbte mich mit einem Waschlappen und der Palmolive-Seife, die ich in einer Tabaksdose aufbewahrte, damit die Mäuse und Ratten sie nicht fanden.
    Eine der beiden Pritschen hatte ich in die Küche gezogen. Das hintere Zimmer lag nach Norden, und der kalte Wind arbeitete sich neuerdings durch Gips und Latten herein, er pfiff durch die schadhaften Paneele, so dass dieser düstere Raum sich nicht mehr als nächtlicher Aufenthaltsort eignete. In der Küche stand ein alter eiserner J.-C.-Wehrle-Herd mit gerissenen Schweißnähten, den ich mit verrotteten Planken, Holzstückchen und Erbsenstrauchzweigen beheizte. Meine Kleider, Bettwäsche und Küchenutensilien wusch ich draußen an der Pumpe, fegte den Boden mit einem alten Besen und fand, dass ich

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