Kanada
mich insgesamt gut an Umstände angepasst hatte, von denen ich nicht wusste, wie lang sie andauern und wie sie sich entwickeln würden. Ich wollte mir die Haare beim Barbier in Fort Royal schneiden lassen – manchmal sah ich mich in den Badezimmerspiegeln im Leonard und wusste, dass ich abgenommen hatte und dass meine Haare zu lang waren. In meinem Schuppen gab es aber keinen Spiegel, und abends war mein Aussehen nicht das Erste, woran ich dachte. Das Haareschneiden fiel mir erst wieder ein, wenn ich im Bett lag, und dass ich mir die Fingernägel kürzen sollte, mit einem Knipser, so wie mein Vater. Aber am nächsten Tag vergaß ich es dann.
Einige der Kartons, die an den Küchenwänden standen, trug ich in das kalte Nordzimmer und stapelte sie vor dem Fenster und an der Wand entlang, um die Risse und Spalten abzudichten. Im Drugstore in Fort Royal hatte ich mir eine lila Kerze mit Lavendelduft gekauft, die ich abends anzündete, weil ich von meiner Mutter wusste, dass Lavendel beim Einschlafen half, und weil der Schuppen – ob kalt oder warm – nach Rauch und Fäulnis und schalem Tabak und menschlichen Ausdünstungen von Jahrzehnten gelebten Lebens roch. Bald würde der Schuppen in sich zusammenstürzen wie der Rest von Partreau auch. Ich wusste, wenn ich wegginge und nach einem Jahr wiederkäme, wäre er wahrscheinlich fast spurlos verschwunden.
Abends, wenn ich gegessen hatte und spazieren gegangen war und das Alleinsein ertragen konnte (ich fand meine Lage nie so ganz erträglich), saß ich auf meiner Pritsche, faltete auf den Laken mein Schachfeld auf, stellte die vier Reihen wackelnder Plastikfiguren auf und dachte mir Züge und Strategien gegen idealisierte, aber unspezifische Gegner aus. Ich hatte ja mit niemandem außer Berner je gespielt. Dabei dachte ich eindeutig an Arthur Remlinger. Normalerweise beruhten meine Strategien auf plumpen Frontalangriffen. Ich besiegte meine Gegner mit opferbereiten Attacken, genau wie Michail Tal, der zu meinem Helden geworden war. Das Endspiel war immer blitzschnell erreicht, weil es kaum Gegenwehr gab. Oder ich versuchte es mit langsamen, irreführenden Finten und Rückzügen (die ich nicht besonders mochte) und gab schlaue Kommentare über die Züge meines Gegners und meine eigenen ab und darüber, was er vorzuhaben schien – wobei ich aber nie meine Siegesstrategie preisgab. Beim Spielen hörte ich Radio, das Licht des alten Zenith-Gerätes schimmerte hinter den Zahlen, und in den kalten, wolkenlosen Nächten drangen ferne Stimmen daraus hervor, die der Wind wohl um die Erde geweht haben musste, ohne sich um Grenzen zu scheren. Des Moines. Kansas City. WLS in Chicago. KMOX in St. Louis. Die kratzige Stimme eines Negers aus Texas. Reverend Armstrong, der Gott anrief. Männerstimmen auf, so meinte ich jedenfalls, Spanisch. Andere, befand ich, sprachen Französisch. Und natürlich gab es noch die klar zu empfangenden Sender aus Calgary und Saskatoon mit ihren Nachrichten – über die kanadischen Bürgerrechte oder die sozialdemokratische Partei von Tommy Douglas, die Co-operative Commonwealth Federation . Dann Ortsnamen – North Battlefield, Esterhazy, Assiniboia –, Städte, von denen ich gar nichts wusste, außer dass sie nicht in Amerika lagen. Ich fragte mich, ob ich wohl einen Sender aus dem gar nicht so weit entfernten North Dakota reinbekäme, um zu hören, wie meine Eltern vor Gericht gestellt wurden. Ich fand keinen solchen Sender, aber manchmal, wenn ich im Dunkeln auf meiner Pritsche lag und den Wehrle-Herd ticken hörte, tat ich so, als sprächen die amerikanischen Stimmen, die ich hörte, zu mir, als wüssten sie von mir und könnten mir Ratschläge geben, wenn ich nur lang genug wach bliebe. An vielen Abenden waren das meine Einschlaftechniken: die Stimmen und die Lavendelkerze.
An anderen Abenden öffnete ich irgendeinen der Pappkartons, die ich nicht ins Nordzimmer geschafft hatte, und vergnügte mich mit den Spuren, die das Leben im Haus in den Jahren, bevor ich hier war, hinterlassen hatte. Auf der Prärie schienen Geschichte und Erinnerung ebenso fremd zu sein wie das Vergehen der Zeit, so als wären die Bewohner von Partreau nicht in der Vergangenheit verschwunden, sondern in irgendeiner anderen, lebendigen Gegenwart – was auch erklärte, warum es keinen würdigen Friedhof gab und so vieles einfach zurückgelassen worden war.
Arthur Remlinger hatte mir gegenüber erwähnt, in seinen frühen Tagen hier habe auch er in meinem Schuppen gewohnt
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