Kanada
stehend und nicht viel anders als die Highschool von Great Falls. Aber sobald ich das Gebäude erblickte, wusste ich, was »gefallen« bedeutete. Das wären Berner und ich gewesen, wenn uns das Jugendamt abgeholt hätte. Waisenkinder. Nur Waisenkinder konnten an einem solchen Ort sein.
Das große Rechteck, auf dem die Schule stand, war von Weideland an einem schmalen, ausgetrockneten Bach abgezweigt worden, auf dessen Böschung oben Weizen wuchs. Spillerige Bäume zierten den Rasen, und Gestalten – die gefallenen Mädchen, nahm ich an – tüpfelten das Gras. Die harte Oktobersonne – prickelnd auf meinem verschwitzten Nacken – ließ die Schule öde und still wirken. Fast hätte ich gewendet und mich wieder zum Highway rollen lassen. Für mich würde es nie einen Ort mit großen Eichen und einem Footballfeld und Jungen in meinem Alter geben – so wie beinahe in Great Falls. Dies hier würde nie dem entsprechen, was ich mir wünschte. Es war Kanada.
Aber nun war ich schon so weit gekommen. Ich ließ das Rad einfach den holperigen Hügel hinunterrollen. Es muss etwa ein Uhr gewesen sein. Zwei Falken kreisten hoch oben am Himmel. Unten, wo die Straße, auf derselben Höhe wie die Schule, flach wurde, begann ich in die Pedale zu treten, und da bemerkten mich einige der Mädchen, die zu zweit oder zu dritt auf dem Rasen saßen, und ein paar, die am Rand der Rasenfläche entlanggingen. Mir wurde klar, dass nur sehr wenige Leute auf die Idee kämen, mit dem Fahrrad den weiten Weg hierher zu machen, denn es gab ja nichts anderes zu tun, als zurückzufahren.
Eine große Nonne in einem schwarzen Gewand mit weißer Kopfbedeckung stand auf den Eingangsstufen zur Schule und beaufsichtigte den Hof. Das Mittagessen war wohl gerade vorbei. Sie sprach mit einem der Mädchen, das lachte. Die Nonne entdeckte mich und musterte mich über die Rasenfläche hinweg.
Wo das Schulgelände an die Straße grenzte, stand ein hohes Gittertor ganz allein da, ohne Zaun – was seltsam war, denn jeder, der wollte, hätte drum herum gehen können. So hatte ich mir ein Waisenhaus nicht vorgestellt. Ein Stück weiter führte die Straße auf das Gelände. Ich konnte geparkte Autos an einer Hausseite erkennen. Die beiden Flügel des Gittertors waren verrammelt durch eine Kette mit Vorhängeschloss, und darüber, die Backsteinpfosten des Tores verbindend, befand sich ein Metallbanner mit einer goldenen Christusfigur darauf, der mit ausgestreckten Armen die Menschen willkommen hieß, falls sich das Tor jemals auftat.
Ich saß schwitzend auf meinem Fahrrad, obwohl ein eisiger Wind den Weg herunterfegte, den ich soeben entlanggerollt war. Gegen den würde ich auf dem Rückweg ankämpfen müssen. Drinnen sah ich nirgendwo einen Jungen, noch nicht einmal auf der Rasenfläche arbeitend. Irgendwo, dachte ich, musste doch ein Junge sein. Es gab doch keine Orte, wo Jungen weder gewollt noch gebraucht waren.
Zwei Mädchen waren von dem Hof auf mich zugekommen, wie ich da auf meinem Rad saß und auf das Gelände starrte. Eine war groß und dünn, sie hatte schlechte Haut und einen harten, faltigen Mund, der sie erwachsen aussehen ließ. Die andere war mittelgroß, hatte schlichte braune Haare und ein eckiges, nicht hübsches Gesicht. Ihr einer Arm war schmächtiger, wenn auch nicht kürzer als der andere. Ich war froh zu sehen, dass sie immerhin freundlich lächelte, mich durch die Gitterstäbe hindurch anlächelte. Beide trugen das gleiche formlose hellblaue Kleid, dazu weiße Turnschuhe und grüne Söckchen. HEILIGER NAME stand in Weiß auf die Stelle gestickt, wo eine Brusttasche gewesen wäre. Die Kleider sahen aus wie das, was meine Mutter an dem Tag im Gefängnis anhatte, als ich sie zum letzten Mal sah.
»Was hast du hier zu suchen?«, sagte das große, älter aussehende Mädchen hart und unfreundlich, als wollte sie mich weghaben. Ihr langer Körper lockerte sich etwas beim Sprechen. Sie schob eine Hüfte vor, als erwartete sie von mir irgendeine schnelle, witzige Antwort, genau wie Berner.
»Ich bin einfach hergekommen, weil ich die Schule sehen wollte«, sagte ich und kam mir verdächtig vor, nur weil ich dort war. Ich war nicht in Amerika. Ich hatte bei einer Schule, über die ich nichts wusste, wirklich nichts zu suchen. Wahrscheinlich sollte ich einfach wegfahren, dachte ich.
»Du darfst hier nicht rein«, sagte das freundliche Mädchen mit dem dünnen Arm. Wieder lächelte sie mich an, aber jetzt war mir klar, dass sie es nicht
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