Kanada
Beispiel, und sein erster Mord). Aber die innere Leerstelle, diese ständige Begleiterin, die ihn überallhin führte, konnte er nicht überwinden. Umgekehrtes Denken, die Gewohnheit, die mich an Bedeutsamkeit glauben ließ, wo nur Leere war, mag im Abstrakten etwas Gutes sein (immerhin machte es mich für meine Mutter interessanter, als ich war). Aber umgekehrtes Denken kann auch dazu führen, das Offensichtliche zu übersehen – zu einem schweren Irrtum also, und in dessen Folge zu Täuschung und weiteren Irrtümern und Tod, wie die beiden Amerikaner herausgefunden hatten.
Ich habe mich darum bemüht, Jepps und Crosley in meinem Gedächtnis lebendig zu halten, lebendiger als Remlinger; da sie für immer und spurlos verschwunden waren, stellt meine Erinnerung das einzige Nachleben dar, auf das sie eine Chance hatten. Der Gedanke hatte mich umgetrieben, dass ihr Tod in irgendeiner Weise mit dem verheerenden Schritt meiner Eltern, eine Bank zu überfallen, in Verbindung stand – mit mir als Konstante, als Relais, als Herzstück der inneren Logik. Und bevor man gleich befindet, das sei bloßes Herumfummeln, Zerpflücken von Teeblättern, sollte man nicht vergessen, wie nah das Böse dem normalen Tagesgeschehen ist, das mit dem Bösen nichts zu tun hat. Bei all diesen denkwürdigen Ereignissen war mir immer am meisten daran gelegen, mir ein normales Leben zu erhalten. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke – an meine Vorfreude auf die Schule in Great Falls, an den Bankraub unserer Eltern, an das Weggehen meiner Schwester, an meinen Grenzübertritt nach Kanada und den Tod der Amerikaner – und dann an Winnipeg und daran, wo ich heute stehe, dann sehe ich all das in seiner Gesamtheit, wie eine musikalische Partitur mit einzelnen Sätzen oder ein Puzzle, und so versuche ich, mein Leben in einem intakten und akzeptablen Zustand zu erhalten, ganz gleich, welche Grenzen ich überschritten habe. Ich weiß, dass allein ich diese Verbindungen herstelle. Aber wenn ich das nicht versuchte, würde ich mich den Wellen überlassen, die einen hin und her schleudern und schließlich gegen die Felsen der Verzweiflung. In dieser Hinsicht kann man viel aus dem Schachspiel lernen, dessen einzelne Züge alle Teil eines langen übergeordneten Bestrebens sind, auf der Suche nach einem Zustand: nicht Gegnerschaft oder Konflikt oder Niederlage oder auch Sieg, sondern die Harmonie, die allem zugrunde liegt.
Warum Arthur Remlinger die beiden Amerikaner erschossen hatte, kann ich nur erraten, indem ich mich strikt an das Naheliegende halte. Es regelte sich nichts dadurch – er bekam nur etwas mehr Zeit und konnte sein Verschwinden in noch tieferer Dunkelheit als Saskatchewan auf später verschieben, vermutlich die »Auslandsreisen«, die er erwähnt hatte.
Vielleicht hatte er auch alles durchdacht. Nicht so, wie ein anderer Mensch etwas durchdenken würde – Pro gegen Contra abwägen, seine Handlungen von seinen Gedanken und Einschätzungen leiten lassen, mit dem Sinn, sich vielleicht auch von ihnen weg leiten zu lassen. Vielleicht hatte er geglaubt, dass die Amerikaner irgendwann ihn erschießen würden, und wenn nicht, ihn jedenfalls nie zur Ruhe kommen ließen (das hatte er gesagt), nie aufhören, nie »nicht mehr wiederkommen« würden; dass sie engagierter hinter ihrer Mission standen, als man ihm angedeutet hatte. Für ihn hieß Durchdenken eher, sie zu erschießen, sofern ihn nicht etwas Unerwartetes daran hinderte. Wer weiß, was das hätte sein können, da es ja nicht eingetreten war. So stellen sich viele Menschen »etwas durchdenken« wohl vor: Man tut genau das, was man vorhat – wenn man kann. Vielleicht wollte er sie einfach umbringen: weil sie ihn überhaupt verfolgt und versucht hatten, ihn zur Rede zu stellen; weil die Vorstellung zu reden ihn wütend machte – nach langen Jahren stummer Enttäuschung, Sehnsucht, Frustration, Isolation, Erwartung; da konnte es ihn schon wild machen, wenn zwei gewöhnliche Nobodys aus Nirgendwo, die ihm auch noch übelwollten, ihn einfach anquatschten, schließlich hatte er eine hohe Meinung von seiner eigenen Intelligenz; Worte wie »lüften« oder »erleichtern« zu hören, andeutungsweise ihr Mitleid zu spüren – all das hatte vielleicht dafür gesorgt, dass er plötzlich verwundbar wurde und dann tödlich. Vermutlich wusste er seit langem, dass Unvernunft seine große Schwäche war. Und mag sein, dass es ihm irgendwann egal geworden war, dass er akzeptierte, es nicht besser zu
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