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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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geschäftsmäßig. »So behältst du die Dinge optimistischer in Erinnerung. Die Stadt ist hier nicht drauf.« (Allein dieser Satz ließ mich schon annehmen, dass sie von den Morden wusste.) Ich sagte ihr, mir gefalle das Bild, und es gefiel mir auch tatsächlich, ich konnte gar nicht glauben, dass es mir gehören sollte. Das hätte ich ihr damals zu dem anderen Bild sagen sollen, und nun hoffte ich, es damit wiedergutgemacht zu haben.
    Ich legte meine wenigen Kleider in den Koffer, meine Schachfiguren, das Schachgrundlagen -Buch und das zusammenrollbare Schachbrett aus Stoff, die beiden Bände des Buchs der Welt und Die kanadische Nation aufbauen , das sie mir geschenkt hatte, aber nicht das Bienenbuch, das hatte ich aufgegeben. Es wurde ein schwerer Koffer. Gemeinsam gingen wir nach unten, aus dem Hotel hinaus und über die stürmische Main Street von Fort Royal zum Barbierladen, wo ich mir an jenen letzten Tagen die Haare hatte schneiden lassen, fast als hätte ich gewusst, dass etwas mit mir passieren würde. Wir standen drinnen vor der Glastür, und Florence sagte, sie setze mich jetzt in den Bus, ich solle bis Winnipeg fahren – 800 Kilometer Strecke, am nächsten Tag würde ich frühmorgens ankommen. Ihr Sohn Roland würde mich abholen. Ich würde bei ihm wohnen und zur Schule gehen und von Nonnen unterrichtet werden, bis alles »ordentlich geregelt« sei. Keine Sorge. Es sei gut, dass ich abreiste, bevor der Winter hier alles Leben fest umklammere. Und sonst, sagte sie, sei eigentlich nichts mehr zu sagen. Sie umarmte und küsste mich, als der Bus ankam – das hatte sie noch nie getan und tat es jetzt auch nur, weil sie Mitleid mit mir hatte. Wir würden uns wiedersehen, sagte sie. Ich verabschiedete mich bei niemandem außer ihr. Es war, als wäre ich schon einige Zeit zuvor weggegangen und würde mich jetzt einholen. Das Auseinandergehen, wie man es sich so vorstellt, mit lauter freundlichen Formalitäten, ist im Leben letztlich doch recht selten.
    Ich war natürlich überglücklich, von dort wegzukommen. Als ich nach den Schüssen und vor der Beseitigung der Leichen im Auto gesessen hatte, war mein Blick über den Wagen der Amerikaner und Partreau geschweift, über Dunkelheit und Schnee, und mein Befund lautete, dieser Ort war wie geschaffen für Mord und innere Leere und fallengelassene Versprechen. Fast, dachte ich, wäre ich alldem entgangen, aber am Ende doch nicht. Und nun – im Bus, der aus Fort Royal und aus Saskatchewan hinausrollte – schien ich meine letzte Chance zu ergreifen.
    Während der Bus gen Osten durch den Schnee pflügte, schaute ich innerlich kaum zurück. Darin war ich noch nie gut gewesen. Ereignisse müssen sich erst einmal setzen und dann wieder nach oben kommen, ganz von selbst, damit ich sie richtig beachte. Tun sie das nicht, vergesse ich sie. Ich dachte keine Sekunde, dass diese Erlebnisse meine Meinung von meinen Eltern und ihrem viel geringeren Verbrechen einfärben würden. Und ebenso wenig glaubte ich jetzt mehr daran, sie je wiederzusehen – sosehr ich mir das gewünscht hätte. Wie Remlinger mich benutzt hatte – als Publikum, als vermeintlich hochinteressante Neuigkeit, als angeblicher Sohn und schließlich als Rückversicherung, Zeuge und Komplize –, war für mich alles andere als angenehm. Aber nichts davon hatte mich daran gehindert, die Stufen zu diesem Bus hochzusteigen, nichts konnte mich von einer Zukunft fernhalten, die ich haben wollte.
    Glaubte er, ich würde nicht erzählen, was ich gesehen hatte? Garantiert streifte ihn nie der Gedanke, dass ich verraten könnte, was ich erlebt und wobei ich mitgemacht hatte – genauso wenig wie die beiden Amerikaner in ihren Armengräbern. Manche Dinge erzählt man eben einfach nicht. Ich verspüre tatsächlich eine kleine Befriedigung darüber, dass er mich zumindest so gut kannte und mich letztlich doch ein bisschen beachtet hatte.
    Mildred Remlinger hatte mir empfohlen, so viel, wie ich irgend konnte, in mein Denken einzubeziehen und meinen Geist nicht ungesund auf nur eines zu beschränken. Und immer etwas zu haben, worauf ich verzichten konnte. Meine Eltern hatten mir beide geraten, die Dinge hinzunehmen ( Flexibilität lautete das Wort meiner Mutter). Mit der Zeit würde ich mir das alles erklären können – irgendwo. Irgendwie. Vielleicht auch meiner Schwester Berner, die ich wiedersehen würde, bevor ich starb, das wusste ich. Bis dahin würde ich versuchen, die guten Ratschläge, die ich bekommen hatte,

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