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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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einem Schicksal errettet, das schlimmer gewesen wäre als der Tod – sie denken dann, ich meine Amerika damit. Manchmal fragen sie mich im Scherz, ob ich meinen Namen geändert hätte. Ich versichere ihnen, dass dem nicht so ist. Hochstapelei und Täuschung, sage ich dann, sind zwei große Themen der amerikanischen Literatur. In Kanada nicht so häufig.
    Nach einer Weile stimme ich dieses Lied nicht weiter an. Kanada hat mich nicht gerettet; das sage ich ihnen nur, weil sie es gern glauben wollen. Hätten meine Eltern nicht getan, was sie taten, sondern als Eltern überlebt, dann hätten meine Schwester und ich beide ein gutes amerikanisches Leben führen und glücklich sein können. Haben sie aber nicht, wir also auch nicht.
    Im Lauf der Jahre haben meine Frau und ich ab und zu Ferien »da unten« gemacht. Wir haben keine Kinder, unsere jeweiligen Familienlinien enden also in gewisser Weise mit uns. Deshalb sind wir nur hingefahren, wo wir hin wollten. Orlando und Orange County und Yellowstone haben wir ausgelassen und sind stattdessen an die wichtigen historischen und kulturellen Orte gefahren: Chautauqua, die Pettus Bridge, Concord und Washington, D.C., was Clare »ein bisschen viel« fand, ich aber ganz okay. Ich habe mich in Sommerfortbildungen eingeschrieben, die von Harvard-Professoren geleitet wurden, einmal die Mayo-Klinik besucht, und oft fahren wir »runter und durch«, wenn wir von hier nach Manitoba wollen.
    Nach Great Falls bin ich nie zurückgekehrt, habe aber gehört, es sei heute eine freundlichere Stadt – immer noch eine Kleinstadt –, viel besser als 1960, als wir dort wohnten und ich sie für immer verließ. Nichts davon – wie ich über die Grenze gebracht wurde – könnte heutzutage funktionieren, seit den Türmen, seit die Grenze dicht ist. Es ist lange her. Meine Eltern nehmen einen noch kleineren Raum in meiner Erinnerung ein. Oft denke ich an Charley Quarters, der, als wir auf seinen Gartenstühlen saßen und Gänse beobachteten, zu mir sagte, dass ihn etwas »verließ«, wenn er aus einem der 48 Bundesstaaten zurückkehrte. Ich empfinde das Gegenteil. Wenn ich zurückkomme, fühlt es sich immer friedlich an. Und wenn mich etwas »verlässt«, dann nur das, was ich auch loswerden will.
    Auf einer Autoreise nach Vancouver machten wir einmal halt in der Stadt Fort Royal, Saskatchewan. Meine Frau weiß alles über jene Zeit und ist voller Mitgefühl und etwas neugierig, denn ich erzähle die Geschichten selten. Einmal habe ich es ausführlicher getan, als wir jung waren, weil ich fand, sie müsse all das wissen, aber seither habe ich mich nie lange dabei aufgehalten.
    Von Fort Royal war nicht mehr viel da. Der Drugstore, die leere Bibliothek, die leere Backsteinschule – alles weg. Spurlos. Zwei Reihen leerer Häuser, eine Co-op-Tankstelle, ein Postamt, das Silo (stillgelegt). Die Bahnanlagen waren in Betrieb, wirkten aber kleiner. Seltsamerweise hatte das Schlachthaus (das heute »Präriefleisch nach Maß« heißt) überlebt. Und das kleine Queen of Snows, mit einem Schild davor: GÄNSEJÄGER: DER HERBST KOMMT. JETZT BUCHEN! Das Leonard war unter den Vermissten – auf dem Grundstück am Stadtrand war nichts zu sehen. Es war Sommer – Anfang Juli –, und die Ernte hatte noch nicht begonnen. Die meisten Wohnhäuser der Stadt standen noch in den kurzen Straßen, viele unter der Ahornfahne – die es vor fünfzig Jahren noch nicht gab. Aber von Arbeitsplätzen keine Spur. Wahrscheinlich mussten alle nach Swift Current fahren oder weiter.
    Partreau, wo wir später vorbeikamen, war komplett weg. Selbst die Hülle des Silos. Es war, als wäre eine große rachsüchtige Maschine durchgekommen und hätte alles untergepflügt und die Erde gesalzen. Ich fuhr uns in die Weizenfelder hinaus, wo dickes Getreide wogte. Der Himmel war hoch und hellblau, der heiße Wind kam in Böen und trug Staub und Grashüpfer heran. Falken patrouillierten träge durch die große warme Kuppel oder saßen hie und da auf Posten in einem einzelnen Baum. Ich sprach es nicht an, aber brachte uns – soweit mich mein Gedächtnis führte – ungefähr zu der Stelle, wo wir die Amerikaner begraben hatten. Es ist seltsam, dass ein Ort so wenig von seiner Bedeutung in sich tragen kann; andererseits ist es nur gut so, denn sonst wären viele Orte heilig, aber unzugänglich, und so sind sie weder das eine noch das andere. Stattdessen wird alles zu einem Teil einer geistigen Komplexität, dem wir (mit etwas Glück) schließlich

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