Kanada
der einen Seite all das Schrubben und Auslüften des Hauses. Aber soweit ich hören konnte, rief sie noch ein paarmal bei ihren Eltern in Tacoma an und bat sie nicht etwa darum, zu ihnen heimkehren zu dürfen, sondern Berner und mich bei sich wohnen zu lassen. Sie sprach mit der natürlichsten, liebevollsten Stimme, als träfe sie sich einmal im Monat mit ihnen – statt nie, seit fast sechzehn Jahren. Berner, bekam ich mit, würden sie aufnehmen, mich nicht. Ein Junge, das sei zu viel. Noch ein Argument für Berners Überzeugung, unbedingt weglaufen zu müssen – bei zwei strengen, misstrauischen alten Polen ohne jede Einfühlung leben zu sollen, die sie nicht kannte, die sie wahrscheinlich nicht mögen würden, aber die – wie per Zufall – nun einmal ihre Großeltern waren.
Zu dem genauen Ablauf der Dinge, durch den unsere Mutter für mein Wohlergehen sorgte und dafür, dass ich nicht dem Staat Montana in die Hände fiel, komme ich noch, der ist für mich von großer Bedeutung. Aber der Seelenzustand meiner Mutter an jenen zwei Tagen, als wir das Haus schrubbten, bevor mein Vater am Mittwochabend mit der Entscheidung für eine Bank zurückkam, bleibt ein hochinteressantes Phänomen – obwohl sie schon so lange tot ist.
Jeder würde meinen, dass eine Frau, deren Ehemann wahrscheinlich dabei war, den Verstand zu verlieren (zumindest teilweise), der sich auf einen Banküberfall vorbereitete, der seine Familie praktisch ins Verderben führte, der es für eine originelle Idee hielt, seinen einzigen Sohn in den Überfall zu verwickeln, der ihnen also Gefängnis und Katastrophe und den Zerfall von allem, was sie beide vom Leben verstanden, einzubringen drohte, eine Frau überdies, die sowieso schon erwog, diesen Mann zu verlassen – man würde meinen, dass diese Frau sich verzweifelt auf jede Gelegenheit stürzen müsste, um davonzukommen, dass sie die Obrigkeit einschalten würde, um sich und ihre Kinder zu retten, oder dass sie mit eiserner Entschlusskraft ihr Terrain verteidigen, nichts von alldem zulassen und auf diese Weise durch ihre schiere Willenskraft die ganze Familie erhalten würde (meine Mutter schien, so klein und unzufrieden sie war, durchaus einen starken Willen zu haben, auch wenn sich dieser Eindruck als irrig erweisen sollte). Doch so verhielt sich meine Mutter keineswegs.
Sobald unser Haus so blitzblank war, wie es nur sein konnte, und sobald sie die Anrufe bei ihren Eltern gemacht hatte und ihre Wut auf unseren Vater abgeebbt war, wurde sie plötzlich nicht etwa überschäumend enthusiastisch, das hätte nicht zu ihr gepasst, sondern unerwartet ruhig. Was ebenso ungewöhnlich war. Sie wirkte erleichtert – zum ersten Mal seit Wochen oder gar noch länger. Als wäre etwas Wichtiges entschieden und hätte seinen angemessenen Platz gefunden. Sie lachte mit uns, nannte Berner scherzhaft einen zukünftigen Kinostar und mich einen College-Professor oder Schachchampion oder Bienenexperten. Sie äußerte ihre Meinung zu vielen Dingen in der Welt – von denen ich gar nicht wusste, dass sie sie interessierten, und über die sie mit uns nie gesprochen hatte. Senator Kennedy, der sie nicht beeindruckte. Das Erdbeben in Marokko. Die kubanische Revolution – darüber musste sie etwas im Radio gehört haben, wie ich. Wir sahen zusammen fern – Douglas Edwards, Restless Gun , Trackdown (das waren meine Serien). Sie machte sich über die Seifenopern und andere Serien lustig, die liefen.
Berner und ich redeten in diesen Tagen nicht viel mit ihr. Ungeschickt und befangen teilten wir etwas mit ihr, nicht im Sinne einer Verbrüderung gegen unseren Vater, sondern eher anerkennend, dass es jetzt eine unausgesprochene Trennlinie zwischen ihnen gab, die ihn offenbar »auf Geschäftsreise« gehen ließ, ohne zum Beispiel zu sagen, wann er zurück sein würde. Ich fand keinen Einstieg, um diesen Bruch anzusprechen – nicht einmal mit meiner Schwester –, ohne gleich alles aufs Tapet bringen zu müssen. Also putzten wir eben das Haus, aßen unsere Mahlzeiten, sahen die zwei Programme im Fernsehen. Ich las in meinem Schachbuch, brütete unmögliche Eröffnungsstrategien aus, blätterte in Bienenzuchtkatalogen und sehnte mich nach dem Schulanfang. Berner blieb wie üblich in ihrem Zimmer, hörte Radio, probierte verschiedene Kosmetika aus, kämmte ihr Haar mal so, mal so, nahm das Telefon mit dem langen Kabel, um ungestört mit Rudy zu sprechen, und plante (da bin ich mir sicher) ihre Flucht – eine Flucht ohne
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