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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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Rückkehr, da es sehr bald auch nichts mehr geben würde, zu dem man hätte zurückkehren können.
    Hätte meine Mutter uns in dieser kurzen Zeitspanne eine Veränderung ihrer Weltsicht zu verstehen gegeben, dann wäre damit etwas zum Ausdruck gekommen, das sich schon seit Jahren anbahnte und erst an jenen zwei Tagen, als unser Vater weg war, ganz plötzlich deutlich wurde.
    Ich war immer davon überzeugt, dass das Aussehen unserer Mutter eine Rolle dabei gespielt haben muss, wie sie sich veränderte und ruhig wurde, während wir darauf warteten, dass mein Vater zurückkam und das Leben dahin führte, wohin es gehen sollte. Ihr Aussehen – ihre Größe (wie Shirley Temple mit fünfzehn), ihre Ausstrahlung (selten ein Lächeln, Brille, Fleiß, jüdische Fremdheit), ihre sichtbare Haltung (skeptisch, scharfsinnig, abweisend, oft abwesend) – hing für mich immer mit dem zusammen, was sie dachte oder sagte, als ob ihr ganzes Ich von ihrem Äußeren geschaffen würde. Das mag für jedermann gelten. Aber egal wo wir je gelebt hatten, alles an ihr hob sie heraus – was in Polen oder Israel oder sogar New York oder Chicago anders gewesen wäre, wo viele Menschen aussahen und sich verhielten wie sie. Keine ihrer Eigenschaften machte sie unauffälliger oder anpassungsfähiger. Und obwohl ich es damals nicht hätte formulieren können, nahm ich es als gegeben hin, dass alles an ihr (was sie uns sagte, was sie uns riet, was sie verwarf oder verfocht) aus der Persönlichkeit erwuchs, die sie war – nicht aus dem, was andere von ihr hielten. Nicht aus der Gemeinschaft. Nicht einmal aus dem gesunden Menschenverstand. Sie hat das nie in ihrer Chronik geschrieben, aber alles muss, weil sie so war, wie sie war, für sie eine Prüfung gewesen sein: nach Fort Shaw rauszufahren, um dort zu unterrichten; die Umzüge und die Häuser, die inakzeptablen Städte, Kollegen meines Vaters von der Air Force, allesamt witzelnde Dummbratzen mit idiotischen Plänen, wie sie die Führung des Rudels übernehmen könnten; keine Freunde zu haben. Sie verfügte ja über etwas, das sie eine ganze Zeitlang für einen starken Willen hielt. Und dieser Wille erlaubte ihr nur eine Art zu denken, nämlich dass angesichts ihrer Entfremdung von allem, was sie umgab (abgesehen von Berner und mir, uns liebte sie), das ihr vertraute Leben weitgehend verachtenswert war. Vertrautheit, Dazugehören, das war – weil sie es nicht vormachte – ihren Respekt nicht wert. Auch so lässt sich erklären, warum sie nicht wollte, dass wir uns anpassten.
    Womöglich hat sie damals erkannt, dass ihr immerwährendes Außenseitertum gar nicht so sehr eine Last für sie darstellte, sondern sie allmählich mit einer großen, seit langem brachliegenden und unterdrückten Sehnsucht nach Neuem erfüllte. Vielleicht empfand sie darüber, dass mein Vater durchdrehte und – wie sie wusste – sich auf einen Banküberfall vorbereitete, weder Verzweiflung noch Entsetzen noch größere Entfremdung (das wäre die konventionelle Reaktion gewesen). Sondern Befreiung . Von allem, was sie bedrückte. Sie mag den Schluss gezogen haben, dass dieses befreite Gefühl unmittelbar von den Eigenschaften herrührte, die sie isolierten und deshalb keine Qual darstellten, sondern ihre Stärke. Das wäre typisch für sie und ihre skeptische Weltsicht gewesen. Und deshalb ging es ihr womöglich so gut wie lange nicht. Eine merkwürdige Reaktion. Aber unsere Mutter war ja auch merkwürdig.
    Es erklärt allerdings nicht, warum sie Berner und mich nicht in einen Zug nach Tacoma packte (oder Chicago, Atlanta, New Orleans), warum sie meinen Vater nicht in ein leeres Haus zurückkommen ließ, was ihn vielleicht wieder zur Vernunft gebracht hätte – falls er überhaupt über welche verfügte. Und es erklärt nicht, warum sie, als mein Vater einen Tag später tatsächlich nach Hause kam, »seine« Bank im Blick und voll summenden Tatendrangs, nicht beschloss, ihn auf der Stelle zu verlassen, mit der Polizei zu reden oder ihm ein Ultimatum zu setzen – sondern zu seiner Komplizin wurde und ihr Leben wegwarf, so wie er das seine. Wenn man lange darüber nachdenkt, warum zwei einigermaßen intelligente Menschen beschlossen, eine Bank zu überfallen, und warum sie zusammenblieben, nachdem ihre Liebe schon verbraucht und verweht war, dann kommt man immer auf irgendwelche Gründe, die man rückblickend nicht mehr nachvollziehen kann und deshalb erfinden muss.

11
    Je länger ich es hinausschiebe, meinen Vater als

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