Kantaki 01 - Diamant
sagte Valdorian. »Für mich sieht es aus wie flüssiger Rosenquarz.«
Am fernen Horizont versank die Sonne Mirlur in den Fluten des Ozeans, und am Himmel erschienen die ersten Sterne. Der Dschungel auf der anderen Seite des breiten, weißen Strands verwandelte sich; üppiges Grün metamorphierte zu einer dunklen Wand, die noch immer schwieg.
Lidia holte ein Buch aus ihrer Tasche. »Bevor es zu dunkel wird …«
»Was ist das?«
»Horan«, erwiderte die junge Frau, und ihre Lippen formten erneut jenes Lächeln, das sowohl leisen Spott als auch Heiterkeit und feminine Eleganz zum Ausdruck brachte. Valdorian hätte es stundenlang betrachten können. »Erinnern Sie sich? ›Meiner Ansicht nach war Horan einer der wichtigsten Philosophen der letzten Jahrhunderte‹.«
Valdorian schnitt eine Grimasse. »Ziehen Sie mich nur auf.«
»Dieses Buch heißt Reflexionen, und ich halte es für ein Meisterwerk.« Lidia öffnete es an einer markierten Stelle, und der dicht neben ihr sitzende Valdorian stellte fest, dass es sich um ein reales Buch handelte, aus echtem Papier. »›Es gibt nicht einen Weg des Lebens, sondern deren tausend, und wir müssen wählen, uns immer wieder für eine Richtung entscheiden.‹«
Sie klappte das Buch zu und reichte es ihm. Er nahm es entgegen wie einen Gegenstand, an dem er sich die Hände verbrennen konnte.
»Ich schenke es Ihnen.«
»Danke, aber ich …«
»Es verpflichtet Sie zu nichts, Dorian«, fügte Lidia hinzu und lächelte erneut. Dann sah sie zu den Sternen empor. Es erschienen immer mehr, denn hier, unweit des Äquators, wurde der Himmel schnell dunkel. »Darum geht es. Um Lebenswege, um Wege durchs Leben. Man muss wählen, sich entscheiden, und jede Entscheidung klammert eine andere aus, verstehen Sie?«
Valdorian zögerte, denn er wusste nicht genau, ob er verstand. In seinem bisherigen Leben war er an keiner Stelle gezwungen gewesen, eine einzige wichtige Entscheidung zu treffen. Er bekam, was er wollte – normalerweise –, und das genügte ihm. Was konnte man mehr verlangen?
»Wollten wir nicht dem Rauschen des Meeres zuhören und uns entspannen?«, fragte er hilflos. »Deshalb sind wir doch hierher gekommen, oder?« Er blickte zum luxuriösen Aquawagen, der nicht weit entfernt am Strand auf sie wartete; er gehörte seiner Familie.
»Was Sie so unter ›Entspannung‹ verstehen, mein lieber Dorian«, erwiderte Lidia und richtete dabei den Zeigefinger auf ihn. Dann hob sie den Blick und sah zu den Sternen empor, während im Dschungel hinter ihnen erste zirpende und krächzende Stimmen erklangen. Der magische Moment war vorbei, aber dafür spürte Valdorian, dass etwas anderes begann.
»Stellen Sie sich jeden einzelnen Stern als einen Lebensweg vor«, sagte Lidia, und ihre Stimme klang jetzt sehr nachdenklich. »Man wählt einen und nimmt sich dadurch die Möglichkeit, die anderen kennen zu lernen und zu erforschen. Das stimmt mich traurig.«
»Warum?«
»Weil es so viel zu entdecken gibt. Jede gelebte, erfahrene Möglichkeit bedeutet, dass tausend andere Möglichkeiten nicht gelebt und erfahren werden können.«
Valdorian sah Lidias Profil im Schein der Flammen, der sich in ihren großen Augen widerspiegelte, dort seinerseits Feuer zu entzünden schien. Ihre ätherische Schönheit berührte etwas in seinem Inneren, dort, wo er bisher immer allein gewesen war.
Lidia zog die Beine an und schlang die Arme darum. »Es gibt Myriaden Welten da draußen, und ich möchte sie alle sehen. Deshalb habe ich an eine Ausbildung zur Kantaki-Pilotin gedacht. Dann könnte ich von Stern zu Stern fliegen und sie alle sehen. Vorausgesetzt natürlich, ich habe die Gabe.«
»Aber Sie interessieren sich auch für Archäologie«, sagte Valdorian.
»Erscheint Ihnen das seltsam?« Lidia lachte leise. »Glauben Sie, das eine schließt das andere aus? Als Pilotin könnte ich viele Planeten erreichen und weitere Hinterlassenschaften der Xurr finden.« Sie drehte den Kopf und sah ihn an. »Das meinte ich vorhin mit den Entscheidungen. Und auch mit den Welten. Wer eine sieht, muss auf alle anderen verzichten, bis er auf der Straße des Lebens an eine neue Abzweigung gerät und wieder wählen kann. Für Kantaki-Piloten ist die Straße des Lebens besonders lang, davon haben Sie sicher gehört, nicht wahr?«
Valdorian nickte. Die Piloten der Kantaki genossen relative Unsterblichkeit, was mit den so genannten Fäden und der linearen und nichtlinearen Zeit in Zusammenhang stand. Er verstand
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