Kantaki 02 - Der Metamorph
stieg schmale Treppen hinunter, vorbei an Chemolampen und Kerzen, deren Flackern den Schatten Leben zu geben schien. Derzeit lag ihm nichts an Gesellschaft, und deshalb wählte er einen Seitentunnel und folgte seinem Verlauf, bis er eine Nische erreichte, vor Jahren mit einfachen Werkzeugen aus dem Fels gehauen. Dort ließ er sich nieder, zündete eine eigene Kerze an, blickte in ihre Flamme und suchte in ihrem Schein nach Ruhe, während er die Gedanken eine Zeit lang treiben ließ. Schließlich sammelte er sie wieder – wie ein Hirte seine Tiere zusammentrieb – und gab ihnen eine Struktur, die die Kraft empfing. Er öffnete das Bündel, legte es wie eine Decke aus und betrachtete die kleinen bunten Steine. Sie hatten sich mit den Jahren angesammelt, wie so vieles andere in seinem Leben; er wusste gar nicht mehr, wann er damit begonnen hatte, sie fürs Gebet zu verwenden.
»Weltseele«, sagte Eklund leise, lauschte dem Klang dieses Wortes und hielt sich daran fest. Es war wie ein Katalysator, der es ihm erleichterte, die Kraft auf eine andere Weise aufzunehmen, nicht um zu heilen, sondern um Erkenntnisse zu gewinnen. Er fühlte eine Präsenz, die alles durchdrang, diese Welt ebenso wie die darunter und darüber. Er hatte die Präsenz immer gefühlt, sein ganzes Leben lang: der Geist, aus dem alles kam, der alles geschaffen hatte. Eklund wusste nicht, ob es der gleiche Geist war, in dem die Kantaki den Anfang allen Seins sahen, und auch das Ende, am Schluss des Fünften Kosmischen Zeitalters. Es spielte keine Rolle, wessen Geist es war, denn die Präsenz gehörte niemandem.
»Weltseele«, wiederholte er leise, und sein Atem ließ die Kerze flackern, »ich habe mein Leben in deine Hände gelegt und lasse mir von dir den Weg weisen. Lenke auch jetzt meine Schritte in die richtige Richtung.«
Mit beiden Händen griff er nach den bunten Steinen, schüttelte sie mit geschlossenen Augen und ließ sie dann auf die Decke fallen. Er öffnete die Augen wieder, betrachtete die Muster und versuchte, einen Sinn darin zu erkennen, während er gleichzeitig Kraft in sich aufnahm und mit geistigen Ohren lauschte.
Das Muster vermittelte… Bedeutung. Eklund neigte den Kopf ein wenig zur Seite und horchte. Ja, das wortlose Wispern der Präsenz gab ihm das Gefühl von Bedeutung. Eine wichtige Botschaft?
Bruder Eklund wusste genau, dass ihm die Steine an sich überhaupt nichts mitteilen konnten. Steine sprachen nicht, Steine wussten nichts. Aber wenn er sie warf und die dabei entstehenden Muster beobachtete, schien die Stimme der Weltseele deutlicher zu werden.
Andererseits… Vielleicht war es reine Angewohnheit, gewachsen im Lauf der Jahre, nichts weiter als eine Routine, die ihm bei der Konzentration half.
»Der Junge leidet«, murmelte Eklund, und wieder bewegte sich die Kerzenflamme. »Wie kann ich ihm helfen?«
Er nahm die bunten Steine und warf sie erneut.
Als er sie betrachtete…
Eklund riss die Augen auf. »Du hast mich zu ihm geschickt?«, brachte er hervor.
Seine Hände verharrten über den Steinen. Diesmal musste er sie nicht noch einmal werfen, um zu verstehen. Er empfing keine Mitteilung, er hörte keine Worte, aber er verstand. Die Weltseele hatte ihn zu dem Jungen geführt, damit er ihn schützte und ihm half.
»Ein… heiliger Auftrag?«, kam es leise von Eklunds Lippen, und er fragte sich, was die atheistische Elisabeth davon gehalten hätte. Erinnerungen erwachten in ihm, an eine goldene Gestalt ohne Gesicht, an einen Auftrag. Erinnere dich. Vergiss nicht. Ich brauche dich.
Er bewegte sich, aber erstaunlicherweise flackerte nicht nur die von ihm angezündete Kerze. Das Flackern wiederholte sich in den anderen Bereichen des Schreins, als ginge ein Windstoß durch die Höhle, was eigentlich unmöglich sein sollte, denn während des Unwetters blieben die Licht- und Luftschächte geschlossen.
Eklund schob die bunten Steine zu einem Haufen zusammen und faltete das Tuch darum, sodass wieder ein Bündel entstand. Dann verließ er die Nische, kehrte durch den Seitentunnel in den zentralen Bereich des Schreins zurück und verharrte dort neben einem Kalksteinzapfen, über den Wasser rann. Die Kerzen leuchteten wieder gleichmäßig, doch mit einer besonderen Sensibilität, die vielleicht auf seinen Kontakt mit der Weltseele zurückging, spürte Eklund, dass etwas geschehen war. Die anderen Brüder und Schwestern schienen nichts zu bemerken; sie blieben Schemen in dunklen Ecken und beteten flüsternd.
Eklund
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