Kantaki 02 - Der Metamorph
mehr Nachdruck an ihm.
»Raimon«, sagte er und übertönte das Flüstern der vielen Stimmen und das Raunen im Hintergrund. »Überlass mir die Kontrolle, Raimon. Zieh dich zurück.«
Er besann sich auf die Kraft, schuf vor dem inneren Auge ein Bild des alten Portals, und plötzlich stand er davor, vor dem uralten Tor aus verwittertem Holz. Er zögerte nicht, streckte die Hand aus und zog den geöffneten Flügel zu. Mit einem leisen Pochen schloss sich das Portal…
… und Eklund saß wieder auf der Bank. Die Sonne verbarg sich hinter Wolken, und Blitze flackerten am Horizont – das Unwetter kam schnell näher.
»Wir müssen in die Zitadelle zurück«, sagte er. »Bald werden die Schächte geschlossen, damit kein Regenwasser in die Tunnel dringt.«
Raimon war in sich zusammengesunken.
»Tut es noch immer weh?«, fragte Eklund.
»Ich bin müde…«, erwiderte der Junge, und ihm fielen die Augen zu.
Eklund zog ihn vorsichtig hoch. »Komm, kehren wir in meine Wohnhöhle zurück. Dort kannst du schlafen.«
Die Levitatorscheibe trug sie zum Schacht zurück, und als sie ihn erreichten, war bereits böiger Wind aufgekommen, trug den Geruch von Regen und Blitzen mit sich. Unten konnte sich Raimon kaum mehr auf den Beinen halten, als sie von der Scheibe traten und sich auf den Weg durch den breiten Tunnel machten. Schon nach kurzer Zeit schwand das Licht, als die Schächte oben geschlossen wurden. Die von den Spiegeln reflektierte Helligkeit wich einem diffusen Halbdunkel; einige wenige Chemolampen rangen mit den Schatten.
Das letzte Stück des Weges musste Eklund den Jungen tragen – der Sturz durch seine vielen Selbstsphären schien ihn zutiefst erschöpft zu haben. In seiner Wohnhöhle legte er Raimon auf die Liege und stöhnte leise, als der Rückenschmerz zu einem Stechen wurde, das sich anfühlte, als bohre ihm jemand einen Dolch in die Wirbelsäule. Diesmal verzichtete er nicht darauf, eine zweite Tablette einzunehmen, stützte sich schwer auf den Gehstock und musterte den Schlafenden.
Im Licht einer Chemolampe blickte er auf den schlafenden Jungen hinab, dessen Gesicht jetzt völlig leer wirkte. Er war ein Selbstheiler und damit einzigartig, aber sein Geist schien während jenes nächtlichen Zwischenfalls großen Schaden genommen zu haben. Oder hatte es in Raimons Bewusstsein etwas gegeben, das durch die Verletzung geweckt worden war? Eklund dachte an multiple Persönlichkeiten, die in einem einzelnen Geist stecken konnten und abwechselnd dominant wurden. Aber normalerweise wussten solche unterschiedlichen Ichzustände nichts voneinander, oder? Vielleicht sollte er mit Elisabeth darüber sprechen. Aber konnte eine multiple Persönlichkeit aus hunderten oder gar tausenden von einzelnen Ichzuständen bestehen, jeder davon mit einem eigenen kulturellen Hintergrund, mit einem eigenen Leben? Gab es dafür in einem Bewusstsein genug geistigen Platz ? Und bei Raimon schienen die einzelnen mentalen Personen voneinander zu wissen, denn er hatte sie von »wir« sprechen hören.
Es tut weh. Natürlich tat es weh. Wenn tausend Selbstfragmente miteinander rangen und jedes einzelne von ihnen versuchte, sich gegen alle anderen durchzusetzen und zu leben…
Profundes Mitgefühl erfüllte Eklund, und er beugte sich ein wenig vor, berührte den Jungen an der Stirn. »Wie können wir dir helfen?«, flüsterte er.
Normalerweise betete Eklund in seiner Wohnhöhle, aber er wollte den Jungen nicht stören; also nahm er sein Bündel mit den Steinen und machte sich auf dem Weg zum »Schrein« – so nannte die Aufgeklärte Gemeinschaft eine Höhle mit vielen Verzweigungen, die Brüder und Schwestern zum Gebet nutzten. Jeder von ihnen hatte seinen oder ihren eigenen Gott, manche auch keinen, und der »Schrein« war im Lauf der Zeit zu einem Ort religiöser Andacht geworden, so wie die Höhle mit dem Mandala der Meditation diente.
Eklund ging durch dunkle und halbdunkle Tunnel, tief in Gedanken versunken – er überließ es seinen Füßen, den richtigen Weg zu finden. Er begegnete anderen Brüdern und Schwestern, grüßte sie und wurde gegrüßt, und es erleichterte ihn, keine Sekuritos zu sehen. Sie passten nicht in die Zitadelle; sie gehörten nicht hierher. Die Aufgeklärte Gemeinschaft hatte immer abseits aller Institutionen von Kerberos gestanden, aber der Hirte schien das ändern zu wollen, wie so vieles andere auch.
Im Schrein hielten sich nur wenige Personen auf, kaum mehr als Schemen in schattigen Ecken. Eklund
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