Kantaki 02 - Der Metamorph
jemand vor vielen Jahren gezimmert hatte – die Verwitterungsspuren waren unübersehbar.
Eklund holte zwei Gebäckstücke aus einer seiner vielen Taschen – sie stammten aus der Gemeinschaftsküche der Zitadelle. »Hast du Hunger?«
Raimon nahm ein Stück entgegen und biss so vorsichtig hinein wie in Lindas Brötchen. Er schien Gefallen an dem Geschmack zu finden und verspeiste das Gebäckstück innerhalb weniger Sekunden. Eklund lächelte und überließ ihm auch das zweite, obwohl sein Magen knurrte.
Er beobachtete den Jungen beim Essen, und als Raimon fertig war, stellte er die Frage, die ihn schon seit einer ganzen Weile beschäftigte: »Wo bist du in der vergangenen Nacht gewesen, Raimon?«
Der Junge sah ihn groß an. »Nacht?«
»Ich bin aufgewacht, und du warst nicht da. Ich bin losgegangen und habe nach dir gesucht.«
»Gesucht?«
»Verstehst du, was ich sage, Raimon?«
»Ich… höre. Und ich kann sprechen.«
»Wo bist du gewesen? Ich habe Xalons Höhle betreten und gesehen, was von ihm übrig geblieben ist. Und als ich in meine Höhle zurückkehrte, warst du wieder da. Du hast auf deiner Liege gelegen und geschlafen. Wo bist du gewesen, Raimon?«
»Es tut so weh.«
Eklund rückte etwas näher und legte ihm den Arm um die Schultern. »Du bist ein Selbstheiler, daran zweifle ich nicht mehr. Deinem Körper hast du helfen können, aber den Geist zu heilen, ist viel schwieriger, nicht wahr? Bist du bereit, dich meiner Führung anzuvertrauen, Raimon? Ich bringe uns ins Elysium, in die Welt über der Welt. Vielleicht können wir dort herausfinden, was es mit… den Stimmen in dir auf sich hat. Und vielleicht entdecken wir dann auch eine Möglichkeit, dich von den Schmerzen zu befreien. Vertrau dich mir an; verzichte auf den Einsatz deiner eigenen Kraft. Hast du verstanden?«
Der Junge nickte, und dieses eine Nicken genügte, um Eklund Zuversicht zu geben. Er streifte allen geistigen Ballast ab und sah es vor sich, das alte Portal aus verwittertem Holz, wie der Eingang einer Festung. Aber es existierten keine hohen Mauern mit Zinnen; rechts und links vom Portal erstreckte sich graue Leere. Eklund trat näher und berührte das Portal, woraufhin ein Flügel aufschwang. Licht glühte dahinter, das Schimmern der Welt über der Welt.
»Komm, Raimon«, sagte er und schritt, vom Jungen begleitet, durchs Portal. Auf der anderen Seite…
… erstreckte sich weder eine lange Treppe noch ein windumtostes Felsplateau, sondern eine schwebende Stadt. Bunte kristallartige Gebilde bildeten symmetrische und asymmetrische Strukturen, zusammengesetzt aus allen nur erdenklichen geometrischen Formen. Rot und blau schimmernde Blasen trieben durch Gasschlieren. Aus irgendeinem Grund wusste Eklund, um welche Gase es sich handelte: überwiegend um Wasserstoff und Helium, aber auch Ammoniak, Methan und Äthan. Unter der glitzernden und funkelnden Stadt erstreckte sich der gewaltige Wolkenozean eines Gasriesen; dies war eine Welt der genetisch veränderten Neuen Menschen.
»Raimon?«
Eine fragil anmutende Gestalt flog ihm entgegen, die zart wirkenden Flügel weit ausgebreitet. Hinter ihr flogen andere Gestalten, aber sie blieben weit entfernt, nur Punkte vor dem Hintergrund der Stadt.
Eklund fragte sich nicht, wie er an einem solchen Ort existieren konnte. Dies war das Elysium, eine besondere Welt mit besonderen Möglichkeiten. Er stand auf festem Boden, obwohl sich eine endlose Tiefe unter ihm erstreckte; er atmete Wasserstoff und Helium, war einem Druck ausgesetzt, der ihn unter normalen Umständen sofort zerquetscht hätte. Seltsam: Diese Neuen Menschen mussten mit wahrhaft extremen Umweltbedingungen fertig werden, aber trotzdem wirkten sie zierlich.
Dicht vor Eklund verharrte die Gestalt mit ausgebreiteten halbtransparenten Schwingen und lächelte. Er erkannte eine junge Frau, und in ihrem Gesicht sah er etwas Vertrautes, Züge, die er bei der Befragung durch die beiden Sekuritos im Gesicht des Jungen gesehen hatte. »Raimon?«, fragte er erneut.
»Ich bin Emmili«, sagte die Geflügelte. »Dies ist mein Zuhause.«
Eklund streckte die Hand aus, um Emmili zu berühren, aber plötzlich verschwand sie, zusammen mit der schwebenden Stadt und dem gewaltigen Gasplaneten. Wind pfiff, und über ihm knarrte etwas. Eklund hob den Blick und sah große Segel, schneeweiß und blutrot, von einer steifen Brise aufgebläht. Er stand an der Reling eines Schiffes, dessen Rumpf aber nicht durch Wasser glitt, sondern durch eine graue
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