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Kantaki 02 - Der Metamorph

Kantaki 02 - Der Metamorph

Titel: Kantaki 02 - Der Metamorph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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verschlang, ohne dass Wasser hereinbrach und alles mit seinem gewaltigen Druck zermalmte. Edwald Emmerson stürzte in ein Meer aus Dunkelheit und Schmerz. Sein Selbst zerriss.
     
    Rungard Avar Valdorian hob die Lider und sah eine vertraute Umgebung. Er saß am Schreibtisch, im Arbeitsbereich seiner Villa auf Tintiran im Mirlur-System. Helles Licht fiel durch die großen Fenster, die auf die Stadt Bellavista und das Scharlachrote Meer hinausblickten. Einige absurde Sekunden lang befürchtete er, geschlafen und geträumt zu haben. Die Suche nach Lidia, der Krieg gegen die Allianz, die Temporalen, Agoron, der Flug nach Kerberos… Gehörte das alles zu einem Traum? Waren es von Hoffnung und Verzweiflung geschaffene Bilder?
    Abrupt stand er auf, trat an einen nahen kleinen Spiegel heran, betrachtete sein Gesicht und tastete erleichtert über glatte Wangen. Nein, er hatte es nicht nur geträumt, er war wieder jung, voller Kraft und Leben. Der alte, kranke, sterbende Valdorian existierte nur noch in seiner Erinnerung, als ein abscheuliches Zerrbild des Mannes, der er jetzt war.
    Er drehte sich um und ließ seinen Blick durch das große Zimmer schweifen, das er so gut kannte, über die Kunstwerke, echten und pseudorealen Pflanzen, über die Porträts seiner achtzehn Vorgänger. Wie kam er hierher? Er erinnerte sich an ein schmerzhaftes Ziehen, an das Dunkle, das aus dem Meeresboden gekommen war und mit einem Finger nach dem Tauchboot getastet hatte. Er erinnerte sich an Triumph und Schrecken, an das Gefühl, sein Ziel erreicht zu haben, begleitet von der Erkenntnis, dass es gar nicht sein Ziel war, dass das Werkzeug nicht zu der Hand werden konnte, die es hielt, für immer ein Instrument blieb.
    Der Frage nach dem Wie seines Wechsels an diesen Ort gesellte sich eine zweite hinzu: Warum befand er sich hier? Es gab einen Grund, da war er sich sicher.
    Benommenheit breitete sich in ihm aus, und erneut zweifelte er an der Authentizität der eigenen Gedanken. Die Stimmen Agorons und der anderen Temporalen hörte er nicht mehr – glaubte er jedenfalls –, aber durfte er darauf vertrauen, dass die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, seine eigenen waren?
    Stille umgab ihn, eine Stille, die nicht auf die Abwesenheit störender akustischer Einflüsse zurückging. Es handelte sich vielmehr um die Abwesenheit aller Geräusche. Langsam ging Valdorian durch den Arbeitsbereich und auch die anderen Räume seiner Villa, hörte nichts dabei, weder seinen Atem noch die eigenen Schritte.
    Draußen im Sonnenschein blieb er stehen, sah auf die Stadt Bellavista in der Bucht hinab und hielt in ihr vergeblich nach Bewegungen Ausschau. Nichts rührte sich dort, und die Stille, die seltsame, absurd lautlose Stille, dauerte an. Selbst das Flüstern des Windes fehlte. Nichts regte sich hier, nichts lebte hier, außer ihm. Alles war in einem zeitlosen Moment erstarrt.
    Valdorian hob den Kopf und sah mehrere Tintiran-Möwen. Reglos hingen sie in der Luft, ihre jeweils vier Flügel ausgebreitet. Er beobachtete Gras und Blätter, bemerkte auch dort keine Bewegung.
    Er kehrte in die Villa zurück, wie auf der Flucht vor der Stase draußen. Mit langen Schritten ging er durch die vielen Räume der Villa, auf der Suche nach etwas, das er nicht hätte benennen können, nach einer Erklärung vielleicht, einer Antwort. Die Benommenheit in ihm dehnte sich aus, war wie geistige Melasse, und die Gedanken darin ähnelten kleinen Würmern, die nicht mehr ungehindert hin und her kriechen konnten, mit einem immer stärker werdenden Widerstand fertig werden mussten.
    Am Schreibtisch seines großen Arbeitszimmers blieb Valdorian schließlich stehen, lauschte der Stille, die immer unheimlicher wurde, und sagte laut, um sie zu vertreiben: »Was ist hier los? Warum bin ich hier?«
    Sofort bedauerte er, gesprochen zu haben. Seine Stimme klang fremd, wie die einer anderen Person, und sie schien nicht von ihm selbst zu kommen, sondern ihren Ursprung woanders zu haben. Außerdem gewann er den Eindruck, dass sie hinter den Kulissen des Sichtbaren etwas bewirkte. Er stellte sich vor, wie die Worte die eine Schale einer Waage senkten, die sich bis dahin in einem perfekten Gleichgewicht befunden hatte; die andere Schale kam ein wenig nach oben. Dinge gerieten aus der Balance.
    Valdorians Umgebung verformte sich. Objekte begannen sich zu bewegen; sie blähten sich auf und schrumpften, flossen auseinander und verschmolzen miteinander. Gleichzeitig wichen die Farben aus der

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