Kantaki 02 - Der Metamorph
einem pseudorealen Baukasten spielte.
Es ist der Anfang, flüsterte es.
Weitere Formen entstanden, immer mehr, und Valdorian verband sie in einem Wissen, das nicht von ihm selbst stammte: Stangen mit Dreiecken, dort, wo die hellen Verbindungspunkte glänzten; Vierecke mit Oktaedern; Rechtecke mit pyramidenförmigen Gebilden. Blau und Grün, Rot und Gelb, Orange und Violett und andere Zwischentöne – sie alle mussten an den richtigen Stellen platziert werden. Ein Gerüst entstand in der Finsternis, die immer weiter vor den Farben zurückwich, eine geometrische Metaform, wie ein Labyrinth, das sich in drei Dimensionen erstreckte. Manchmal brachen verbundene Formen auseinander, und wenn das geschah, kehrte Valdorian zurück und reparierte sie, verband sie erneut miteinander.
Das freie Selbstfragment sammelte Sinneseindrücke und Informationen, versuchte zu verstehen. Es spürte, dass die Farben der Formen mehr waren als nur bunte Markierungen – sie gaben Auskunft über den Realitätsgehalt von Wegen, die durch Zeit und Raum reichten. Eine erste Erkenntnis bildete sich:
Die Formen und Farben dienten dazu, einen Kurs zu bestimmen, der nicht nur durch Raum und Zeit führte, sondern durch zahllose Raum-Zeit-Alternativen.
Du bist der Wegfinder, hatte Olkin gesagt, und Valdorian erkannte die sonderbare, krumme, spöttische Ironie in diesen Worten. Lidia, die ein Kantaki-Schiff flog… Jetzt wurde er ebenfalls zu einem Piloten, der sich anschickte, den Keim des Omnivors zu steuern, ihn dorthin zu bringen, wo man ihn erwartete: zum Null, zum Kerker der Temporalen…
Agorax/Agoron… Der Temporale hatte ihn betrogen. Die Verjüngung, der Zeitschlüssel… Von Anfang an war dies das Ziel gewesen: Valdorians Aufnahme in das Spiel, die Vervollständigung der Steuerungsmechanismen und des operativen Potenzials des Omnivorkeims. Das Werkzeug war die ganze Zeit über nur ein Werkzeug gewesen, hatte nie etwas anderes sein können.
Valdorian flog durch das weiter wachsende Gerüst, das ihn an ein überaus komplexes Molekülmodell erinnerte – oder an die Doppelhelix der DNS –, erweiterte und reparierte es. Er zeigte dem Omnivor den Weg zum Null, mithilfe der Verbindung zwischen ihm und Agoron, vorbei an den Zeitfallen der Kantaki. Das war seine Aufgabe als Wegfinder, als Navigator des Omnivors.
Das freie Selbstfragment, in den hintersten Winkel des versklavten Bewusstseins geduckt, fragte sich, was aus ihm wurde, wenn er seine Aufgabe erfüllt hatte… Der unfreie Valdorian gab sich solchen Überlegungen nicht hin. Sein ganzes geistiges Potenzial wurde für die Konstruktion des Weggerüstes benutzt, dafür, die richtigen geometrischen Formen an den richtigen Stellen miteinander zu verbinden.
Manchmal glaubte er, in den wachsenden Strukturen die Schatten und Schemen der anderen Spielfiguren zu sehen. Wie viele waren sie? Gefangen, missbraucht, instrumentalisiert, alle Teil einer Maschinerie, die Geist und Materie miteinander verzahnte und ihrerseits Teil eines größeren, übergeordneten Etwas war, das die mentale Welt mit der physischen verband. Das beobachtende Selbstfragment begriff: Was Olkin »Spiel« nannte, war mehr als nur das Steuerungszentrum des Omnivorkeims; es nahm die Funktionen eines Gehirns wahr. Valdorian war der Wegfinder, und die übrigen Spielfiguren kümmerten sich um andere notwendige Dinge: interne und externe Wahrnehmung, Energie, Mobilität, Angriff und Verteidigung. Kontrolliert wurden die Spielfiguren – gewissermaßen die verschiedenen Bereiche des Gehirns – von Olkin und den Spielern; das geistige Potenzial der Letzteren wurde jedoch ebenfalls von außen manipuliert. Die aktive Phase des Spiels, das Zusammenwirken der Spielerfunktionen, schuf das Semibewusstsein des Omnivors, mehr als nur ein Instinkt, aber weniger als ein Selbst, ohne eine direkte Vorstellung vom eigenen Ich. Das Wesen, das Valdorian umgab, war nicht intelligent; es lieh sich fremde Intelligenz.
Olkin… Der freie Valdorian fragte sich, wer er war. Die Seele des Omnivorkeims? Seine innere Identität? Oder war auch der Gnom nur ein Werkzeug? Und nach welchen Prinzipien wählte er die Spieler aus? Olkin hatte Edwald Emmerson mit dem Hinweis verschwinden lassen, dass er kein geeigneter Spieler war. Erforderte das Spiel eine bestimmte geistige Prädisposition?
Während der versklavte Valdorian die Arbeit an dem Gerüst fortsetzte und dabei den farblichen Kompositionen, die über Realitätsdichte Auskunft gaben, immer mehr
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