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Kantaki 02 - Der Metamorph

Kantaki 02 - Der Metamorph

Titel: Kantaki 02 - Der Metamorph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Eklund griff behutsam nach der Hand des Mädchens. »Kommt darauf an.« Er schloss die Augen, streifte allen Ballast von seinem Selbst ab und sah sie vor sich, die Tür zum Elysium: ein Portal aus altem Holz, verwittert und zerkratzt, eine schwere, massive Tür, wie man sie bei einer Festung erwartet. Aber dahinter erstreckten sich keine dunklen Gemäuer, sondern… Bruder Eklund streckte die Hand aus – eine Hand, die nicht aus Fleisch und Knochen bestand, sondern aus Gedanken und Hoffnung –, berührte das Holz und drückte einen Flügel des Portals auf. Licht schimmerte ihm entgegen, ohne zu blenden, und Konturen zeichneten sich darin ab, die Umrisse einer langen steilen Treppe, rechts und links gesäumt von Leere.
    »Ein beschwerlicher Weg für einen alten Mann wie mich«, murmelte Eklund und betrat das Elysium, die Welt über der Welt, die sich ihm bei jedem Besuch anders präsentierte, ihm aber immer die Kraft anbot, wie auch den anderen Heilern der Aufgeklärten Gemeinschaft. Ganz oben, am Ende der Treppe, unter einem Himmel, der kein Himmel war, wartete eine Gestalt auf ihn, ein kleines Mädchen. Stumm sah Rebecca in die Tiefe, und ihre Blicke trafen sich. Hilf mir, flüsterten ihre großen Augen, kastanienbraun wie ihr Haar.
    Eklund stieg die Treppe hoch, und diesmal war keine Elisabeth zur Stelle, die ihn stützte, ihm den Weg nach oben erleichterte. Der Gehstock, krummer und etwas kürzer als das Original, erwies sich als nützliches Werkzeug. Schon nach wenigen Minuten machte sich wieder der Rückenschmerz bemerkbar, und Eklund wartete nicht, bis er zu einer echten Behinderung wurde. Er blieb kurz stehen, holte das Arzneipäckchen hervor, öffnete es, nahm eine Tablette und schluckte sie, ohne mit Wasser nachzuspülen. Ein Heiler, der Medizin brauchte – das hatte etwas Absurdes, da musste er Elisabeth Recht geben. Er setzte sich wieder in Bewegung, schwang den Gehstock und kletterte nach oben, fühlte dabei seine über neunzig Lebensjahre wie eine Last, die immer schwerer wurde. Natürlich wusste er, dass er eine Art Metapher erlebte. Die Mühe, die ihm der Weg nach oben bereitete, symbolisierte die Anstrengung, die der Vorgang des Heilens – der Einsatz der Kraft – für ihn bedeutete. Diese Dinge waren ihm längst vertraut geworden, und er dachte kaum noch darüber nach.
    Nach einigen weiteren Minuten legte er eine kurze Verschnaufpause ein und sah zu Rebecca hoch, von der ihn noch immer viele Stufen trennten. »Keine Sorge, ich gebe nicht auf, ich komme und helfe dir.« Das Portal tief unten war zu einem kaum mehr wahrnehmbaren Fleck geworden, und der Nicht-Himmel schien zum Greifen nah. Eklund konzentrierte sich auf das Mädchen, als er den Weg fortsetzte, auf seinen stummen, bittenden Blick.
    Schließlich erreichte er das Ende der Treppe, schwach und erschöpft, aber auch zufrieden. Ein Hindernis war überwunden; er hatte auch diesmal sein Ziel erreicht. Vor dem Mädchen ging er in die Hocke und stellte fest, dass der Schmerz im Rücken bereits nachließ. Das Mädchen sah ihn blass und ernst an, gab noch immer keinen Ton von sich. Schmutz zeigte sich hier und dort an seinem weißen Kleid, und Eklund wusste, was es damit auf sich hatte – er wischte ihn fort, klopfte die Flecken des Syndroms vom Stoff des Lebens. Wie einfach, nach dem langen, mühevollen Weg über die Treppe.
    Aber Rebecca blieb ernst.
    »Warte mal, ich glaube, ich habe etwas für dich.« Eklund suchte in seinen vielen Taschen, und in einer fand er eine kleine Glaskugel, in der Farben wogten, wenn man sie drehte. »Hier, das ist für dich«, sagte er und gab dem Mädchen die Kugel.
    Rebecca nahm sie entgegen, drehte sie und beobachtete, wie Farben ineinander glitten, immer neue Muster bildeten. Ein Lächeln entstand auf ihren Lippen…
    Eklund seufzte leise, öffnete die Augen und sah auf Rebecca hinab, die in ihrem Bett am Fenster lag, noch immer mit geschlossenen Augen. Aber sie war nicht mehr bewusstlos – sie schlief nur. Und die Diagnosegeräte zeigten einen deutlich verbesserten Zustand an: Die Nieren erfüllten ihre normale Funktion, und es gab keine Blutvergiftung mehr durch Zerfallsprodukte der erkrankten Leber.
    »Gib ihr das, wenn sie erwacht.« Eklund holte eine kleine Glaskugel hervor und reichte sie Elisabeth. »Ein Geschenk von mir. Vielleicht… erinnert sie sich daran.«
    »Du warst eine halbe Stunde in Trance«, sagte die Ärztin. »Ich habe schon befürchtet, du würdest es nicht schaffen.«
    »Es war nicht

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