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Kantaki 02 - Der Metamorph

Kantaki 02 - Der Metamorph

Titel: Kantaki 02 - Der Metamorph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Stein, wenn ich ihn hebe und loslasse? Warum sind Planeten rund und nicht viereckig? Warum geht das Leben irgendwann zu Ende? Nicht auf alle Fragen gibt es Antworten.«
    »Höre ich da wieder so etwas wie Fatalismus?«
    »Vielleicht. Tatsache ist, dass sich manche Dinge durch eine gewisse Eigendynamik auszeichnen, und oft entwickeln sie sich auf eine Weise, die uns nicht gefällt. Wir beobachten diese Entwicklung, und es steht uns frei, so darauf zu reagieren, wie wir es für richtig halten. Jeder von uns kann seinen Beitrag dazu leisten, dass die Dinge besser werden. Du leistest hier großartige Arbeit, Elisabeth. Du hast vielen Menschen geholfen. Dein innerer Motor ist Idealismus.«
    Die Ärztin lehnte sich zurück. »Was treibt dich an?«
    »Vielleicht suche ich die Seele der Welt.«
    »Da wirst du eine Enttäuschung nach der anderen hinnehmen müssen, selbst wenn du tausend Jahre suchst.«
    »Ich fürchte, ganz so viel Zeit bleibt mir nicht.« Wieder formten Eklunds rissige Lippen ein geheimnisvolles Lächeln. »Vielleicht suche ich ein wenig Zufriedenheit. Vielleicht suche ich Licht, wo es nur Schatten zu geben scheint. Vielleicht suche ich einen Tropfen Tau auf ausgedörrtem Boden. Vielleicht suche ich das Ende des Regenbogens, um an ihm emporzuklettern.«
    »Wann wirst du endlich erwachsen?«, fragte Elisabeth mit einem Kopfschütteln.
    »Ich hatte mehr als neunzig Jahre Zeit dazu«, erwiderte Eklund. Etwas ernster fügte er hinzu: »Ich glaube, ich suche nach dem Sinn – falls das einen Sinn ergibt.«
    »Wortspielereien.«
    »Meinst du? Ich bin sicher, du würdest die Dinge anders sehen, wenn du so alt wärst wie ich. Vielleicht suche ich… die letzte Antwort.«
    »Die gibt der Tod.«
    »Ah, ein interessanter Hinweis von einer Person, die nicht an ein Leben danach glaubt.«
    »Das habe ich nie behauptet«, erwiderte die Ärztin. »Ich glaube nur nicht an einen uns übergeordneten bestimmenden Faktor, wie auch immer man ihn nennen mag: Gott, Weltseele und so weiter. Ich glaube an die Existenz der Kraft, die eure Aufgeklärte Gemeinschaft benutzt, um zu heilen. Und das Elysium, von dem du mir erzählt hast, scheint ebenfalls zu existieren, wie und wo auch immer. Ich muss also zugeben, dass manche Dinge, für die ich keine Erklärung habe, Teil der mich umgebenden Realität sind.«
    Eklund fiel etwas ein. Er holte das Arzneipäckchen hervor, das Elisabeth ihm gegeben hatte.
    »Es ist geöffnet«, stellte die Ärztin fest. »Wann hast du eine Tablette genommen?«
    »Während meines Aufenthalts im Elysium. Auf einer langen, nach oben führenden Treppe.«
    Elisabeth leerte ihren Becher und stellte ihn auf den Tisch. Eine blau schimmernde Kobaltfliege surrte kurz darüber und schwirrte dann fort.
    »Was soll das beweisen?«
    »Es beweist, dass man sich davor hüten sollte, irgendetwas für unmöglich zu halten«, sagte Eklund. »Und jetzt… Führ mich zu dem Jungen.«
     
    »Wir haben inzwischen herausgefunden, dass er Raimon heißt«, sagte Elisabeth, als sie am Bett mit dem jungen Patienten stehen blieben. »Die Eltern sind unbekannt. Entweder ist er irgendwann ausgerissen, oder sie haben ihn im Stich gelassen. So etwas geschieht jeden Tag.« Sie klang bitter. »Etwa zwölf Jahre alt. Wie wir hörten, verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als Strichjunge. Mit Drogen soll er nichts zu tun gehabt haben.«
    Bruder Eklund blickte auf Raimon hinab. Der Junge war ein wenig mager, aber ansonsten wirkte er normal: dunkles Haar, ein wenig zu lang, Stirn und Wangen glatt, die Augen geschlossen. Er schlief tief und fest.
    »Er scheint gesund zu sein.«
    »Ja. Und das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass wir in der vergangenen Nacht ein Projektil aus seiner Brust geholt haben. Das Ding steckte dicht neben dem Herzen. Eigentlich sollte er noch sehr geschwächt sein. Sieh dir das an.« Elisabeth hob das dünne Laken, und die nackte Brust des Jungen wurde sichtbar. Dicht unter dem Herzen zeigte sich nur eine leichte Verfärbung auf der sonnengebräunten Haut, sonst nichts.
    »Ein… Selbstheiler?«
    Elisabeth breitete kurz die Arme aus. »Medizinisch ist das nicht zu erklären. Aber ich dachte immer, ihr könnt euch nicht selbst heilen.«
    »Ich kenne niemanden, der dazu imstande ist, und auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Ich bin über neunzig Jahre alt. Während meines langen Lebens habe ich viele Brüder und Schwestern kennen gelernt, und niemand von ihnen war imstande, die Kraft für sich selbst zu

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