Kantaki 05 - Feuerstürme (Graken-Trilogie 2)
Teil seiner Zeit damit, durch die Bibliothek zu wandern. Es war deshalb eine Bibliothek, weil er sie sich so vorstellte. Die Benutzeroberfläche der Archive von Sapientia ließ sich individuell gestalten, und er hatte immer das Gefühl von Wissen in der alten Form gemocht: Bücher und Datenträger, die direkt ausgelesen werden konnten. Die virtuellen Räume pseudo- oder quasirealer Wirklichkeiten, verwaltet von KI-Avatars oder gar unabhängigen Megatronen, waren ihm immer zu kalt erschienen.
Das langsame, ruhige Wandern durch die langen Gänge einer schier endlosen Bibliothek konfrontierte Horendahl natürlich nicht mit chaotischen Daten. Die Bücher und Datenträger aller Art, die um ihn herum in den Regalen ruhten, sortierten sich immer so, wie er es wollte. Andere Benutzer der Archive zeigten sich gelegentlich als geisterhafte Schemen, wenn er in einen Themenbereich mit Datenabfragen gelangte. Die zum Archivsystem gehörenden KI-Avatars halfen normalerweise in den virtuellen Räumen beim Suchen nach bestimmten Daten; hier waren sie freundliche Männer und Frauen in mittleren Jahren, die neben einem Regal standen oder an einem Tisch saßen und darauf warteten, dass Horendahl Fragen an sie richtete.
Es erstaunte den Chefwissenschaftler noch immer, dass all dieses Wissen – Aufzeichnungen über einen Zeitraum von mehr als achttausend Jahren, und sie betrafen nicht nur die Geschichte der Menschheit – erhalten geblieben war. Die Tal-Telassi hatten ihre Archive nach Millennias Besetzung durch die Graken zerstören wollen, aber dazu war es zum Glück nicht gekommen. Horendahl stockte der Atem bei der Vorstellung, dass ein so gewaltiger Wissensschatz für immer hätte verloren gehen können.
Als er einen Fuß vor den anderen setzte, strich er mit den Fingerkuppen über die Buchrücken in der rechten Regalwand. Im Vorbeigehen las er einige Titel: Astrophysikalischer Kalkulus lautete der eines besonders dicken Bandes, und ein anderer Quantenmechanische Philosophien: Verschränkung von Ideen. Manchmal verharrte Horendahl und las ein Buch. Besser gesagt, er öffnete es, und neurale Stimulierung übertrug die betreffenden Informationen direkt in sein Gehirn. Hier gab es so viel zu entdecken. Und man brauchte nur die Hand auszustrecken, um zu wissen .
Horendahl ging weiter, und nach einer Weile merkte er, dass er sich in einem Bereich der Bibliothek befand, der unvertraut wirkte. Hier gab es keine Schemen, die auf andere Archivbenutzer hinwiesen, und er begegnete immer weniger hilfsbereit wartenden Avatars. Es schien sogar ein wenig dunkler zu werden.
An einer Stelle, wo sich mehrere Gänge trafen, wählte er den nach links führenden Korridor und fand sich etwa zehn subjektive Minuten später verblüfft an einer glatten Wand ohne Regale wieder. Horendahl blickte an ihr entlang und fragte sich, ob er das Ende der Archive erreicht hatte – oder ein Ende. Er hielt vergeblich nach einem Avatar Ausschau, und was noch erstaunlicher war: Es zeigte sich nicht einmal dann einer, als er über das Interface um Hilfe bat.
Dann bemerkte er die Tür.
Sie war einige Meter entfernt und stand einen Spaltbreit offen. Neugierig trat Horendahl näher und überlegte, ob ihm seine Sinne oder diese besondere Benutzeroberfläche einen Streich spielten. Solange er mit dem Interface verbunden war, konnte er das Archiv nicht verlassen, doch die Tür schien zu einem anderen Ort zu führen.
Er blieb vor ihr stehen, zog sie auf und sah in einen halbdunklen Raum mit langen Bücherregalen an den Wänden. Einige Schritte entfernt stand ein Schreibtisch, und dort saß jemand, hatte die Arme auf den Tisch gelegt und den Kopf auf die Arme. Ein KI-Avatar? Aber eine Künstliche Intelligenz schlief nicht.
Soren Horendahl, so neugierig wie schon lange nicht mehr, trat durch die Tür und näherte sich dem Schreibtisch.
Die sitzende Gestalt – ein menschlicher Mann, jünger als Horendahl, aber nicht jung – hob den Kopf und rieb sich die Augen.
»Wer sind Sie?«, fragte Horendahl.
Der Mann stand auf und seufzte. »Ich bin Horatio Horas Tallbard, Bewahrer des Wissens der Tal-Telassi«, sagte er. »Und ich habe dieses Wissen bewahrt.« Seine Geste galt den Büchern in den Regalen des düsteren Raums.
Soren Horendahl begriff, dass er etwas Einzigartiges gefunden hatte: ein geheimes Archiv tief im Innern der Archive von Sapientia.
6. Blutiger Zorn
15. März 1147 ÄdeF
Dorim Allbur wusste, dass die Zeit drängte, aber er blieb ruhig und
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