Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)
aus mehreren unterschiedlichen Vorhaben Pakete geschnürt: Wenn das eine Land hier zustimmt, erklärt sich das andere mit etwas anderem einverstanden. So werden gleich zwei oder mehr Gesetze erlassen, die einzeln keine Chance hätten.
Tatsächlich werden jedes Jahr zig Gesetze und Richtlinien in Brüssel beschlossen. Werden wir also zunehmend aus Brüssel regiert? Wie hoch der EU -Anteil an unseren Gesetzen ist, ist umstritten. Eine Zeit lang stand die beeindruckende Zahl 80 im Raum: 80 Prozent unserer Gesetze kämen aus Brüssel, hieß es. Das stimmt so aber nicht. Experten haben mal nachgerechnet, wie viele Gesetze der Bundestag tatsächlich beschließt, die nicht in Deutschland selbst ausgedacht wurden, sondern auf EU -Initiativen zurückgehen beziehungsweise als EU -Recht in deutschen Gesetzen verankert werden müssen. Heraus kam, dass dieser Anteil nur ungefähr ein Drittel ausmacht. Aber immerhin – und es sind viele wichtige Dinge, die auf europäischer Ebene geregelt werden.
Brüssel als Abschiebegleis?
Insofern sollte Brüssel eigentlich ein attraktiver Standort für Politiker sein. Ist es auch – allerdings hat man manchmal den Eindruck, dass die Mitgliedsländer durchaus nicht ihre wichtigsten und prominentesten Köpfe nach Brüssel schicken. Böse Zungen behaupten sogar, dass Brüssel ein Abstellgleis für Ausrangierte ist. Der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber hat jetzt zum Beispiel einen Job in Europa, das war sozusagen sein Trostpreis, als ihn die CSU -Parteikollegen als Ministerpräsidenten nicht mehr haben wollten. »Nach Brüssel wegloben« ist jedenfalls ein typischer Spott in Berlin, wenn man jemanden loswerden will und ihm einen scheinbar prestigeträchtigen Job bei der EU verschafft. Wirklich begehrt unter Spitzenpolitikern ist in Europa eigentlich nur die Aufgabe als Kommissionspräsident oder der neue Job des EU -Außenministers, dafür hätte sich sogar Joschka Fischer interessiert. Trotzdem: Insgesamt ist Europa für Politiker über die Jahre attraktiver geworden.
Die Beteiligung bei Europawahlen ist in Deutschland zwar noch immer deutlich geringer als bei einer Bundestagswahl, dennoch werden die europäischen Abgeordneten vom Volk bestimmt. Das Europa-Parlament ist also durchaus kein Abschiebebahnhof für Frührentner. Und gerade viele junge Politiker, die es noch weit bringen wollen, betrachten die Europapolitik als Sprungbrett, weil die Konkurrenz dort nicht ganz so groß ist. Die FDP -Europa-Abgeordnete Silvana Koch-Mehrin war über ihren Brüssel-Job sogar ein richtiger Promi geworden.
Insgesamt gibt es unter den Europa-Abgeordneten allerdings nicht sehr viele bekannte Gesichter und Namen. Der Grüne Daniel Cohn-Bendit gehört dazu und auch ein gewisser Graf Lambsdorff – der heißt jedoch Alexander mit Vornamen und entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Neffe des FDP -Urgesteins Otto Graf Lambsdorff. Dann kennt man vielleicht Martin Schulz von der SPD , der über seinen Posten als Präsident des Europäischen Parlaments häufiger zu Wort kommt. Und die sehr Interessierten werden noch Elmar Brok kennen, der für die CDU im EU -Parlament sitzt. Aber das war’s dann auch schon mit den bekannten Namen und Gesichtern.
Der Eindruck, dass die »besseren« Politiker nach Berlin streben, entsteht auch dadurch, dass über die Europapolitik verhältnismäßig wenig berichtet wird. Was dazu führt, dass man die Akteure kaum kennt, weswegen wiederum weniger berichtet wird, weswegen sie unbekannt bleiben, weswegen die Europa-Jobs nicht so attraktiv sind für Leute mit Ehrgeiz und Machtanspruch. Da schließt sich der Kreis. Wer hoch hinaus will, der bleibt eben doch besser in der Bundespolitik oder wechselt irgendwann von Brüssel nach Berlin.
Warum hat die EU ein Demokratiedefizit?
Das viel beklagte Demokratiedefizit auf europäischer Ebene liegt in den Strukturen der EU begründet: wer über was entscheidet und wie entschieden wird. Hier lohnt es sich, etwas weiter auszuholen: Immer wieder ist ja von einem »Kerneuropa« die Rede, das »voranschreiten« soll. Die anderen können dann später noch einsteigen, wenn sie wollen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom »Europa der zwei Geschwindigkeiten«. Das kann in Einzelfällen gut funktionieren – beim Euro war das so. Da macht ja zum Beispiel Großbritannien nicht mit, niemand wollte die Inselbewohner dazu zwingen, aber warum hätten die Briten die anderen aufhalten sollen? Auch beim Schengen-Abkommen haben
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