Kanzler, Krise, Kapital: Wie Politik funktioniert (German Edition)
Jahrhunderts?
Die Volksrepublik China bezeichnet sich selbst als »gelenkte Demokratie«. Das soll heißen, dass sich die Volksherrschaft im Parteiwillen ausdrückt – die Partei weiß, was gut ist fürs Volk, und hat deshalb auch immer recht. Wer sich gegen die Partei stellt, ist insofern automatisch jemand, der sich gegen das ganze Volk stellt. Allerdings ist die Volksrepublik China formal kein Einparteienstaat; es gibt neben der großen Kommunistischen Partei noch diverse kleine Parteien, ähnlich den Blockparteien in der ehemaligen DDR . Diese Parteien werden zwar als »demokratisch« bezeichnet, doch das entspricht nicht unserer westlichen Definition von Demokratie, denn sie dürfen nicht als Opposition zur Regierung und zur Kommunistischen Partei auftreten.
Die Delegierten in Chinas Nationalem Volkskongress sind zum großen Teil ernannte Parteifunktionäre, die kaum Kontakt zum Volk haben. Da es keine direkte Wahl zum Nationalen Volkskongress gibt, sondern allenfalls eine Zustimmung zu einer von oben festgelegten Liste, gibt es auch keinen Druck auf die Abgeordneten, wirklich etwas für das Wahlvolk zu tun. Die meisten der insgesamt fast 3000 Delegierten sehen die Ernennung zum Volksvertreter mehr als Prestige und nicht als Job. Ihnen reicht es, wenn sie einmal im Jahr Regierungsvorlagen absegnen dürfen.
Die Kommunistische Partei hat dabei absolute Macht. Wer Kritik äußert, lebt gefährlich und kann schnell ins Gefängnis oder ins Arbeitslager wandern oder auch »nur« von lokalen Polizeigruppen zusammengeschlagen werden. Wie zum Beispiel der Regimekritiker und Künstler Ai Weiwei. Er wurde wegen angeblicher »Wirtschaftsdelikte« in Haft genommen und kam erst aufgrund internationaler Proteste und unter strengen Auflagen frei. Ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums erklärte allen Ernstes: »Provokante Menschen wie Ai Weiwei muss man im Zaum halten.«
Allerdings gibt es auch in China kleine Ansätze zu mehr Demokratie. In Dörfern zum Beispiel werden die Dorfleiter inzwischen in geheimen Wahlen bestimmt. Es gibt auch die Möglichkeit, Petitionen an die Regierung in Peking einzureichen, um sich über Ungerechtigkeiten (zum Beispiel Korruption) in der Provinz zu beschweren. Tatsächlich scheinen die Provinzen der Kontrolle Pekings teils regelrecht zu entgleiten. Die Korruption in den Parteikadern auf lokaler Ebene ist massiv.
Ich selbst habe diese Erfahrung gemacht, als ich in Peking einen alten Mann vor dem Gebäude des Petitionsausschusses traf. Er wollte unbedingt, dass wir ihn mit Kamera interviewen – »Ihr seid meine einzige Chance«. Sein Haus war von Bulldozern einfach niedergerissen worden, weil der lokale Parteichef mit einer Immobilienfirma unter einer Decke steckte. Als ich ihn darauf hinwies, dass es gefährlich für ihn sein könnte, mit westlichen Journalisten zu sprechen, lächelte er mich nur müde an: »Weißt du, Kindchen, ich habe Mao und seine Kulturrevolution überlebt. Ich bin über 80 Jahre alt. Ich habe nichts mehr zu verlieren, und ich weiß über Gefahr mehr, als du in deinem Leben hoffentlich jemals erfahren wirst. Bitte interviewt mich, und bitte kommt mit mir nach Hause und seht an, was mir und meiner Frau widerfahren ist.«
Das haben wir schließlich auch getan, mit all der Angst, die man als Journalist hat, wenn man »Dissidenten« interviewt. Nicht Angst um uns selbst, uns würde notfalls die deutsche Botschaft helfen, aber Angst um unseren Gesprächspartner. Als wir in dem Heimatort des alten Mannes, rund 80 Kilometer von Peking entfernt, gedreht hatten, bekamen wir es aber auch selbst mit der Angst zu tun: Wir wurden von mehreren Autos der chinesischen Stasi umringt (die übrigens gerne im schwarzen deutschen Audi oder VW unterwegs ist) und stundenlang festgehalten. Das ging glimpflich aus, auch für unseren alten Mann, dem wir über einen chinesischen Menschenrechtsanwalt am Ende sogar zu einer neuen Wohnung als Entschädigung verhelfen konnten.
Aber dieses ungute Gefühl, in einem rechtsfreien Raum zu sein, ziemlich schutzlos ausgeliefert, während ich mit meinen Kollegen in unserem Auto kauerte – das werde ich so schnell nicht vergessen. Der alte chinesische Herr war noch der Mutigste von uns allen und kläffte die örtlichen Parteikader, die drohend neben unserem Wagen standen, wütend an.
Einer ARD -Kollegin ist es vor Kurzem weitaus schlimmer ergangen. Sie und ihr Team wurden bei einer ähnlichen Geschichte fast zusammengeschlagen, mit
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