Kaperfahrt
einer weiteren Unebenheit des alten Bahngleises durchgerüttelt wurde, brachen die Bolzen wie Zahnstocher. Das zweiachsige Drehgestell sprang aus den Schienen, wobei die gehärteten Stahlräder die dicken Eisenbahnschwellen zermalmten und ganze Schienenabschnitte aus ihren Halterungen rissen und hochbogen.
Da ihr vorderes Ende nicht mehr durch die Schienen fixiert wurde, verließ die gesamte Lokomotive die Spur, bekam Schlagseite und kippte im Zeitlupentempo auf die Seite. Die zusätzliche Reibung, als sie durch das Schotterbett pflügte und Dutzende von Schwellen aus dem Erdreich riss, reichte nicht aus, um ihren enormen Schwung zu verringern. Selbst in seinem Todeskampf noch würde der Koloss mit dem Pig kollidieren.
Die Lokomotive war keine zehn Meter mehr von ihnen entfernt und näherte sich so schnell wie zuvor. In einem verzweifelten Versuch, sie in Sicherheit zu bringen, musste Linc das Gaspedal mit dem Fuß regelrecht aufs Bodenblech nageln. Das Pig und der Güterwagen rollten durch die Biegung und hatten nur noch einen geringen Kontakt zu den Schienen, während sie den Hügel umrundeten.
Ohne Schienen, um sie zu lenken, fuhr die Lokomotive geradeaus, angetrieben von ihrem enormen Gewicht und von dem Tempo, das sie während der Jagd auf ihr menschliches Wild erreicht hatte. Sie passierte das Pig in einem Abstand von kaum einem Meter und raste auf die Kante des tiefen Tals zu. Es gab keine Leitplanken, nichts, um sie auf dem Gleis zu halten. Ihre Nase brach ein keilförmiges Stück aus der Felskante, während sie den Rand des Abgrunds erreichte, und ließ eine Steinlawine den Berghang hinabpoltern. Dann rollte sie ebenfalls in die Tiefe.
Linc und Mark konnten sie vom Führerhaus des Pig nicht mehr sehen. Aber von seinem Aussichtspunkt auf dem Dach des Güterwagens, wo er schon wieder die Bremsen anzog, beobachtete Cabrillo, wie die Lokomotive sich den Berghang hinunterwälzte und mit jeder Umdrehung schneller wurde. Der große Treibstofftank in ihrem Bauch platzte auf, und Dieselöl entzündete sich an den heißen Auspuffrohren. Die darauf folgende Explosion und der dichte Staubvorhang verhüllten ihre letzten Momente, ehe sie auf den felsigen Talboden krachte.
Der Güterwagen überwand den Rest der Kurve auf seinen Außenrädern und legte sich dabei so weit auf die Seite, dass Juan schon glaubte, er würde sich nicht mehr aufrichten. Aber irgendwie schaffte das tapfere alte Stück die Kurve doch noch und kippte auf das Gleis zurück. Juan ließ sich gegen das Handrad sinken und schnappte einige Sekunden lang nach Luft, ehe er sich die Prothese wieder über den Beinstumpf schob.
Er schätzte, dass sie nur noch zehn Meilen bis zur Bekohlungsstation und dem Kai vor sich hatten, wo die Oregon und damit die Freiheit auf sie warteten.
Das Einzige, was er nicht wusste und auch nicht begreifen konnte, war, was mit dem Mi-8-Hubschrauber geschehen war, den er gehört zu haben glaubte, bevor sie von dem Bergwerksgelände geflohen waren. Die Terroristen hatten nicht versucht, sie damit zu verfolgen, was für Cabrillo keinen Sinn ergab. Sicher, ein Frachthubschrauber war nicht gerade das stabilste Gerät, um einen Angriff zu inszenieren, aber wenn man bedachte, welche Bemühungen die Terroristen angestellt hatten, um sie aufzuhalten, hätte er doch damit gerechnet, dass sie auch den Helikopter hinter ihnen herschickten.
Während der nächsten fünf Minuten durchfuhr der Zug mehrere Kurven, jede mit einem derart großen Radius, dass Juan kaum die Bremsen betätigen musste. Er wechselte gerade die Funkfrequenz, um sich bei Max an Bord des Schiffes zu melden, als sie durch eine weitere Biegung fuhren, die ihm den Blick auf das vor ihm liegende Gleis bisher versperrt hatte.
Ihm gefror das Blut.
Das Bahngleis verließ den relativ sicheren Grund der Bergflanke und schwenkte ab zu einer Talbrücke, wie man sie aus der Zeit des Wilden Westens in Amerika kannte. Sie ähnelte entfernt dem Abschnitt einer Achterbahn und erhob sich über dreißig Meter vom Talgrund. Es war eine verwinkelte Konstruktion aus Holzbalken, die von Sonne und Regen in Jahrzehnten weiß gebleicht worden waren. Und an ihrer Basis, mit sich langsam drehenden Rotoren, stand der Mi-8.
Juan brauchte gar nicht genau zu erkennen, was die Männer, die in dem Gitterwerk herumkletterten, gerade taten, um zu begreifen, dass sie Sprengladungen anbrachten, um die Brücke in die Luft zu jagen.
25
Als der Telefonanruf schließlich angenommen wurde, wusste
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