Kaperfahrt
Stufen von Fanatismus gab, zu denen er sich nicht aufschwingen wollte.
Oft hatte er die Jungen, die sie rekrutierten, miteinander schwatzen hören, Jugendliche aus den Slums wie auch aus den privilegiertesten Kreisen. Sie machten es beinahe zu einem Spiel, sich möglichst sadistische Foltern für die Feinde des Islam auszudenken, um das Vertrauen zueinander zu festigen. Er hatte das Gleiche schon Jahre früher getan, während des Bürgerkriegs im Libanon, als er volljährig geworden war. Aber insgeheim wusste jeder, auch wenn er es niemals zugab, dass es nur ein Zeitvertreib war, eine Möglichkeit, mit seiner Hingabe an die eigene Sache und seinem Hass auf den Feind zu prahlen. Am Ende waren die meisten so sehr von Angst gelähmt, dass sie noch nicht einmal eine Pistole richtig in Anschlag halten konnten. Und Selbstmordgürtel und -westen mussten so idiotensicher wie möglich konstruiert sein.
Aber das galt nicht für den Mann am anderen Ende der Leitung. Abdullah wusste, dass er sich daran weidete, Menschen aus dem Westen die Köpfe mit einem Krummsäbel abzuschlagen, der angeblich aus der Zeit der Kreuzzüge stammte. Er hatte russische Soldaten in den abgelegenen Bergen von Tschetschenien geröstet und in Bagdad mitgeholfen, die geschändeten Leichen von Amerikanern aufzuhängen. Er hatte seinen eigenen Neffen angeworben, einen Teenager mit dem Geist eines Zweijährigen, der nichts lieber tat, als kleine Häufchen von jeweils genau einhundert Sandkörnern abzuzählen, und ihn als Selbstmordattentäter mit vierzig Pfund Sprengstoff und Stahlnägeln in eine sunnitische Wäscherei in Basra geschickt. Fünfzig Frauen und Kinder starben bei der Explosion, und die folgenden Vergeltungsmaßnahmen hatten auf beiden Seiten Hunderte weiterer Todesopfer gefordert.
Abdullah würde seine Pflicht, so wie er es betrachtete, für Allah tun. Sein Kontaktmann im inneren Kreis des Imam, Al-Jamas persönlicher Leibwächter, tötete und misshandelte, weil es ihm Vergnügen bereitete. In Al-Jamas Organisation war es ein offenes Geheimnis, dass der Mann noch nicht einmal den Islam praktizierte. Obwohl als Muslim geboren, betete er doch nicht, fastete auch nicht während des Ramadan und ignorierte sämtliche religiösen Speisegesetze.
Warum der Imam solche Abscheulichkeiten tolerierte, war so lange Thema zahlreicher Diskussionen unter den älteren Kommandeuren wie Abdullah gewesen, bis Hinweise auf solche Unterredungen an Al-Jamas Ohr drangen. Zwei Tage später wurden den vier Männern, die die Entscheidung des Imam, diesen Mann zu seinem engsten Vertrauen zu machen, in Frage gestellt hatten, die Zungen herausgeschnitten, die Augen ausgestochen, die Nasen und Finger entfernt und die Trommelfelle durchstoßen.
Die Bedeutung dieser Gräueltaten war eindeutig. Indem sie über den Mann hinter seinem Rücken redeten, hatten sie bewiesen, dass sie keinen Sinn für Gehorsam besaßen – also sollten sie auch keine Sinne mehr haben.
»Der Wille des Imam wird geschehen, Friede sei mit ihm«, sagte Abdullah hastig, als ihm klar wurde, dass er etwas hätte erwidern sollen. Dabei war die Verbindung längst unterbrochen.
»Linda, beweg deinen Hintern mitsamt dem M60 hier herauf«, verlangte Juan über Funk. »Und mit so viel Munition, wie du tragen kannst. Mark, du musst das Pig vom Güterwagen abhängen.«
»Wie bitte?«, rief Murphy. »Weshalb denn?«
»Du kannst sonst nicht schnell genug rückwärtsfahren.«
Linc meldete sich über das taktische Funknetz. »Ich dachte, unser Problem wäre, das Tempo dieser verrückten Karawane niedrig zu halten.«
»Jetzt nicht mehr.«
Sekunden später landete das Kaliber-.30-Maschinengewehr von der Dachkuppel des Pig mit einem dumpfen Poltern auf dem Teerdach des Güterwagens. Cabrillo eilte nach hinten, um Linda bei der unhandlichen Waffe zu helfen. Hinter ihr stand Alana Shepard. Sie hatte sich sowohl einen Munitionsgurt als auch einen gefährlichen Schmuck um den Hals geschlungen. Vor ihr standen zwei weitere Patronenkisten. Sie reichte die Kisten nach oben, und er half ihr beim Heraufklettern.
»Wie ich sehe, wollen Sie sich den Hut redlich verdienen«, meinte Juan grinsend.
Als sie die Brücke das erste Mal sah, begriff Linda Ross, weshalb der Chef die schwere Waffe brauchte. Sie klappte das Dreibein des M60 aus, stellte es an der vorderen Dachkante auf, streckte sich dahinter aus und wartete darauf, dass er den ersten Munitionsgurt ins Gewehr einfädelte. Während Alana einen zweiten
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