Kaputt in El Paso
wohlbehütet aufwächst. Mildred meint, dass Trey wahrscheinlich auch eine Bindungsstörung hatte. Das ist ein weit verbreitetes Problem. Es wäre doch eine Tragödie, wenn das Baby jetzt auch noch mit so einer Bindungsstörung aufwachsen würde. Ich weiß, das würde nicht einfach werden, aber meinst du nicht auch, dass Menschen manchmal über sich hinauswachsen sollten? In Erwartung eines Kindes, sieht die Welt ganz anders aus.«
Diesen Brief warf ich nicht weg.
Unter den Briefen waren einige mit Angeboten für Kreditkarten. Einer war von Cibola Savings and Loan. »Sehr geehrter Mr. Walkinghorse, sollten Sie noch nicht über eine Platinum Card der Cibola verfügen«, begann das Anschreiben, »möchten wir Ihnen dieses ungewöhnliche Angebot … « Ich fing an zu lachen, doch lachen schien mir nicht angemessen. Ich ging hinaus auf den Flur und heulte wie ein verlassener Hund. Einige Mieter öffneten die Türen, um die Quelle des Lärms zu lokalisieren. Sie wussten, was die Glocke geschlagen hatte, und drängten auf keine Erklärung.
Die Luft war dank des Sturms noch immer wie reingewaschen. Sie roch nach Leben. Ich ging über die Straße, ins ehemalige DMZ, und bestellte eine Margarita. Die Eigentümerin des Piccadilly on the Rio, Mrs. Neue Geschäftspolitik, weilte noch in Belize, also feierte ich ihre Abwesenheit mit zwei laschen Drinks.
Ich bat den Barkeeper um Papier und Stift. Er suchte und kramte und gab mir schließlich eine herausgerissene Seite eines alten Quittungsblocks. Ich schrieb:
In Erwartung eines Kindes,
sieht die Welt ganz anders aus.
Endlich hatte ich verstanden, was eine Partizipialkonstruktion samt Stilblüte war, und gratulierte der Welt zu ihrer Schwangerschaft.
Den Satz wollte ich mitnehmen, wenn ich über den Rio ging, hinüber zu Güero, um bei ihm zu arbeiten. Ich wusste, Güero würde ihn zu schätzen wissen.
Zum Autor: Rick DeMarinis, geboren 1934 in New York, lehrte über mehrere Dekaden an der University of Texas in El Paso, bevor es ihn nach Olympia, Washington verschlug. Er ist Autor von mehreren Romanen und Short-Story-Sammlungen und wurde 2000 mit dem Independent Book Publishers Award ausgezeichnet. Auch wenn ihm der große Durchbruch bislang nicht gelingen konnte, wird er doch von Kennern der US-Literaturszene als einer der wichtigsten zeitgenössischen Erzähler geschätzt.
Zu den Übersetzern
Frank Nowatzki wurde 1964 in Berlin geboren und absolvierte eine Ausbildung zum Verlagskaufmann. 1988 stieg er als Herausgeber und Übersetzer mit der Reihe Black Lizard ins Verlagsgeschäft ein, die später dann in Pulp Master überging. Er hält sich mit Boxen fit und lebt mit Frau und Kindern in Berlin.
Angelika Müller, geboren 1954 in Berlin, Magister in Germanistik und Politologie, zeichnet seit 1988 als Lektorin und Übersetzerin für die Reihe verantwortlich und lässt sich von Rammstein und Velvet Underground inspirieren.
Ein Nachwort von Ekkehard Knörer
Zu Rick DeMarinis
Der Autor Rick DeMarinis gehört zu den am besten gehüteten Geheimnissen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Die meisten Lexika verzeichnen seinen Namen nicht. In den Buchhandlungen wird man seine Bücher sowohl unter ›General Fiction‹ als auch unter Kriminalliteratur in der Regel vergeblich suchen. Bisher war ein einziges Buch ins Deutsche übersetzt, der Roman The Year of the Zinc Penny, es ist längst nur noch antiquarisch aufzutreiben. Seit 1975 hat der Autor, den vorliegenden eingeschlossen, sieben weitere Romane verfasst. Die Kritik hat ihn mit den Kultautoren Terry Southern oder Kurt Vonnegut verglichen, mit gutem Grund. Dem breiten Lesepublikum aber ist er noch immer kein Begriff.
Immerhin moderaten Ruhm, jedenfalls eine gewisse Anerkennung unter Kennern, genießt er als Autor von Kurzgeschichten. 1986 erhielt er für den Band Under the Wheat den nicht unbedeutenden Drue Heinz Preis. Zuletzt hat er gar ein Lehrbuch veröffentlicht, The Art & Craft of the Short Story (2000). Ein Lehrbuch, aus dem man nicht nur das Handwerk lernt, das einen, so man denn Talent hat, zum guten Kurzgeschichtenautor macht. Nebenbei oder, je nach Perspektive, auch hauptsächlich, lernt man auch viel über den Autor selbst, der da eine Art Autobiografie entlang seiner Schreibtechniken und Publikationsgeschichten verfasst hat. Er plaudert aus dem Nähkästchen und er vertritt die Meinung, dass das Schreiben von Romanen ein Kinderspiel ist. Die wahre Herausforderung sei die Kurzgeschichte. DeMarinis muss
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