Karibische Affaire
sagte Dr. Graham.
»Aber sicher ist es nicht«, sagte Tim.
»Nichts ist sicher«, sagte Dr. Graham. »Das ist eine der ersten Wahrheiten, die man in meinem Beruf lernt.« Wieder legte er Tim die Hand auf die Schulter. »Machen Sie sich nicht zu viel Sorgen!«
»Ja, das sagt sich so«, meinte Tim, als der Arzt durch die Tür ging. »Keine Sorgen machen! Wofür hält er mich eigentlich?«
20
» M acht es Ihnen auch bestimmt nichts aus, Miss Marple?« fragte Evelyn Hillingdon.
»Nein, überhaupt nicht, meine Liebe«, sagte Miss Marple. »Ich bin froh, mich ein wenig nützlich machen zu können. In meinem Alter fühlt man sich schon recht überflüssig auf der Welt, wissen Sie. Besonders wenn ich, wie hier, nur zur Erholung bin. Nein, nein, ich bleibe sehr gern bei Molly, machen Sie nur getrost Ihren Ausflug! Heute geht’s nach Pelican Point, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Evelyn. »Edward und ich mögen die Gegend dort sehr. Ich werde nie müde, die Vögel im Sturzflug und beim Fischfang zu beobachten. Momentan ist Tim noch bei Molly, aber er hat zu tun und lässt sie nicht gern allein.«
»Da hat er ganz Recht«, sagte Miss Marple. »Ich würde das auch nicht tun. Man kann nie wissen, nicht wahr? Wenn jemand einmal so etwas versucht hat… Also gehen Sie nur, meine Liebe!«
Evelyn ging auf die kleine wartende Gruppe zu, die aus ihrem Mann, den Dysons und vier anderen Gästen bestand. Miss Marple überprüfte ihr Strickzeug, überzeugte sich, dass sie alles Nötige mithatte und schritt zum Bungalow der Kendals hinüber.
Schon fast an der Loggia, hörte sie Tims Stimme durch das halb offene Balkonfenster.
»Wenn du mir nur sagen wolltest, warum du das getan hast, Molly! Bin ich daran schuld? Es muss doch einen Grund geben – wenn du doch endlich reden würdest!«
Miss Marple war stehen geblieben. Erst nach einiger Zeit hörte sie Molly mit klangloser, müder Stimme antworten. »Ich weiß es nicht, Tim, ich weiß es wirklich nicht. Es – muss über mich gekommen sein.«
Miss Marple klopfte ans Fenster und trat ein.
»Ach, Sie sind’s, Miss Marple. Das ist sehr lieb von Ihnen!«
»Aber nicht doch«, wehrte Miss Marple ab. »Ich bin froh, Ihnen helfen zu können. Soll ich mich hierher setzen? Sie sehen viel besser aus, Molly. Das freut mich!«
»Mir geht es gut«, sagte Molly. »Wirklich. Aber ich könnte in einem fort schlafen.«
»Ich werde ganz still sein«, versprach Miss Marple. »Bleiben Sie nur liegen und ruhen Sie sich aus! Ich hab’ ja meinen Strickstrumpf.«
Im Gehen warf Tim ihr noch einen dankbaren Blick zu, während Miss Marple sich in ihrem Stuhl zurechtsetzte.
Molly lag auf ihrer linken Seite. Sie sah benommen und erschöpft aus. Fast nur im Flüsterton sagte sie:
»Es ist sehr nett von Ihnen, Miss Marple. Ich glaube, ich werde jetzt einschlafen.«
Sie drehte sich weg und schloss die Augen. Ihr Atem wurde regelmäßiger, wenn auch bei Weitem nicht normal. Eine lange Pflegeerfahrung ließ Miss Marple fast automatisch das Leintuch glatt streichen und unter die Matratze stecken. Dabei stieß ihre Hand gegen etwas Hartes, Kantiges. Überrascht griff sie zu und zog es heraus: Es war ein Buch. Miss Marple warf einen Seitenblick auf die junge Frau, die aber ganz ruhig dalag – offenbar eingeschlummert. Miss Marple schlug das Buch auf. Es war ein bekanntes Werk über Nervenkrankheiten. Ganz von selbst öffnete es sich an jener Stelle, wo der Ausbruch von Verfolgungswahn und verschiedenen anderen schizophrenen Erkrankungen sowie verwandten Leiden beschrieben war.
Das Buch war nicht im hochgestochenen Fachjargon, sondern allgemein verständlich geschrieben. Miss Marple wurde während des Lesens sehr ernst. Nach ein oder zwei Minuten schloss sie das Buch und verharrte in Gedanken. Dann beugte sie sich vor und schob den Band wieder an seinen alten Platz zurück.
Kopfschüttelnd erhob sie sich, ging die paar Schritte zum Fenster – und drehte sich plötzlich um. Molly hatte die Augen geöffnet, schloss sie aber sofort, sodass Miss Marple nicht ganz sicher war, ob sie sich diesen raschen, scharfen Blick nicht nur eingebildet hatte. Verstellte sich die Kranke? Aber auch das wäre ganz natürlich gewesen: Sie konnte ja Angst haben, Miss Marple würde zu reden beginnen. Ja, so konnte es sein!
Deutete sie Mollys Blick falsch, wenn sie darin etwas wie Verschlagenheit sah, etwas Verwerfliches also? ›Man kennt sich nicht aus‹, dachte Miss Marple, ›man kennt sich nicht aus!‹ Sie nahm sich
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