Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)
in Gottes- und Menschenliebe (I), in Gottesfurcht und Glauben (III) fand sich in der Lehrschrift des Heiligen (II,42–60)als Erfordernis zur Bibelexegese eine Verteidigung auch heidnischer Wissenschaften, der Geschichte, der Komputistik und Astronomie, der Dialektik und der Rhetorik, der Mathematik und der Ethik. Zumal die Wissenschaft von den Schlußfolgerungen, Definitionen und Divisionen, mithin die Logik, überhaupt die «freien Künste» (und nur sie) seien für die Erfassung der Wahrheit von unbestreitbarem Nutzen, auch wenn sie selbst noch nicht die Wahrheit sind. So betonte Augustinus. Karl und seine Gelehrten mußten es als Programm verstehen, das es in die Praxis umzusetzen galt.
Die Schwierigkeiten, die sich einem Erfolg entgegenstellten, waren damals, vor 1200 Jahren, erheblich größer als im 20./21. Jahrhundert. Sie begannen – was Augustinus sich noch nicht hatte vorstellen können – mit der Sprache, dem Latein. Karls Muttersprache, ein lebensnahes Fränkisch, taugte kaum zu gelehrten, wissenschaftlichen, philosophischen, theologischen Höhenflügen. Sie verstummte vor der Dialektik. Den Lebensstadien der Haus- und Wildschweine, dem nach dem Pferd wichtigsten Tier der fränkischen Adeligen und ihrer Knechte, stand ein schier unerschöpflicher Reichtum an Wörtern zur Verfügung, der dem Latein wiederum abging. Eine schlichte Bildhaftigkeit der Aussage erschien an Stelle rationaler Argumentation, aufzählende Reihung statt Subordination, situatives statt abstraktes Denken, Redundanz[ 103 ].
Die primitiven, jeglicher Fachterminologie entratenden Muttersprachen der Franken, Alemannen oder Baiern hätten nicht den schlichtesten philosophischen oder theologischen Gedanken, keinen widerspruchsfreien Syllogismus formulieren können. Es fehlten Begriffe und entsprechende Aussagemuster. Doch die Wissenschaften bedurften des Lateins und damit einer Sprache, die selbst jenseits der ‹germanischen› Welt längst dem Wandel zu den romanischen Volkssprachen unterlag, die in keiner Weise die antike Klarheit bewahrt hatten.
Trotz letzter Reste an Lateinkenntnissen auf dem Kontinent schritt die Vulgarisierung des Lateins, der Weg also der antiken Sprache zu den regionalen ‹romanischen› Umgangssprachen, unaufhaltsam voran, und mit ihr traten Verluste an Aussagefähigkeit und Differenzierungsvermögen zu Tage. Die Erneuerung mußtealso bei der Sprache beginnen, dem Latein. Um sie zu erlernen, mußten Schulen erst wieder eingerichtet werden. Die Psalmen, die liturgischen Texte, der Komputus, die Grammatiken sollten dort in korrigierten Handschriften vorliegen, verlangte deshalb die «Admonitio generalis» von 789[ 104 ]. Es genügte freilich noch immer nicht.
Die Predigt der meisten Geistlichen, das Medium religiöser Volkserziehung, klang roh und unbeholfen, wenn sie denn überhaupt gepflegt wurde. Wie aber sollte das Volk recht unterwiesen werden, wenn die Prediger selbst nicht verstanden, wovon sie sprachen? Die Homiliensammlung des Paulus Diaconus, die Karl in Montecassino erbeten hatte, konnte kaum Abhilfe schaffen, schon gar nicht in wenigen Jahren. Deutlich offenbarte gerade der erste explizite Beleg für den Sprachwandel, ein Kanon der im Jahr 813 in Tours zusammengetretenen Synode, den Mangel an Verständnis. Die Synode verlangte da, «damit alle leichter verstehen können, was gesagt wird», daß die Bischöfe den Inhalt ihrer Predigten in die «romanische Volkssprache», die
rustica Romana lingua
, und in die «deutsche», die
Thiodisca
, übersetzen sollten[ 105 ].
Auch ‹Romanen› verstanden mithin das Latein nicht mehr; auch sie mußten es neuerlich lernen. Die übersetzungsbedürftige Predigt verharrte bei unbedarfter Faßlichkeit der Aussage, bei publikumsgerechter Schlichtheit religiöser Praktiken und Doktrinen. Bischöfe aber predigten vor allem auf ihren Diözesansynoden, vor ihren Klerikern, nicht vor einfachem Volk. Gerade die Geistlichkeit hatte demnach ihre Schwierigkeit mit dem Latein und dem Verstehen und sollte nun die Schulbank drücken.
Karl ging mit seinem Beispiel voran; jedenfalls wurde es entsprechend propagiert. Er war der vornehmste Schüler seines Reiches. Er hatte schon als Königssohn eine literate Bildung genossen; als König vertiefte er sie. «Die Muttersprache genügte ihm nicht; er wandte sich fremden Sprachen zu, um sie zu lernen. Das Latein beherrschte er so ausgezeichnet, daß er es wie seine Muttersprache zu sprechen pflegte. Griechisch allerdings verstand
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