Karlas Umweg: Roman (German Edition)
der Orgel zugeht«, schrie ich begeistert.
Aber Papa fand das überhaupt nicht komisch. Während er mit dem Löffel den verwahrlosten Obstkern in die Reihe seiner Genossen schubste, sagte er: »Mama meint den Zahlenanzeiger für die Lieder aus dem Gesangbuch. Dass der junge Kirchenhelfer Johannes heißt, war mir bislang nicht bekannt.« Damit stand er auf und faltete seine Serviette.
Papa ist ein Serviettenfalter und Serviettenring-Benutzer. Das Wegschmeißen von nur einmal verwendeten Papierservietten ist mit seiner Lebensauffassung nicht vereinbar.
Meine letzte Woche in Bad Orks ist gekommen. Alle bedauern mein Weggehen, finden aber, dass mein Entschluss der einzig Richtige ist, und dass ich bei meiner Jugend und bei meinem Talent hier nicht länger versauern darf. – Ach, ich habe übrigens ganz vergessen zu erwähnen, dass ich die Aufnahmeprüfung bestanden habe. Letzte Woche war ich in Berlin zum Vorspiel und in der ganzen Aufregung habe ich die goldene Kladde vergessen. So ist diese Nebensächlichkeit fast meiner Vergesslichkeit zum Opfer gefallen! Der Professor sagte, eine »Null« sei leider nicht zu vergeben, so müsse ich mich mit einer »Eins plus« begnügen. Das habe ich allerdings Regina nicht erzählt. Es würde sie unnötig verstimmen.
»Ich wünsche dir jedenfalls ein erfolgreiches Leben«, hat sie zerknirscht gesagt. »Mir selbst ist der Erfolg ja nun nicht mehr vergönnt.«
Sie hat die Aufnahmeprüfung nicht bestanden, sie meint, das lag an ihrem Stress mit Gernot. Übrigens haben Papa durch seine guten Beziehungen zum Kirchenvorstand und Mama durch ihre langjährige Mitgliedschaft beim »Christlichen Verein junger Mädchen« ein halbes Doppelzimmer in einem katholischen Mädchenheim für mich ergattert. Weil Berlin so eine schlimme Großstadt ist, mit Drogen und so, sagt Mama, ist das für mich ein wahrer Segen. Da kann ich mich geborgen fühlen, sagt Mama, da bin ich unter meinesgleichen. Schade eigentlich.
Der Sprung ins kalte Wasser ist getan. Ich hocke auf einer kalten schmierigen Fensterbank in einer Schlange von etwa fünfzig jungen Menschen, die alle für zwei Stunden ein Klavier haben wollen. »Übeschlange« nennt sich diese Ansammlung nasser Mäntel. Keiner der Kommilitonen hier nimmt Notiz von mir, niemand hat mich mit ausgebreiteten Armen begrüßt und mich als junge Begabung zu würdigen gewusst. Weder im Sekretariat, wo eine graue Maus vor ihrer Schreibmaschine saß, noch im Studentenheim für ledige katholische Klavierlehrerinnen hat irgendjemand mir mehr als eine hochgezogene Augenbraue gegönnt. Das Studentenheim liegt passenderweise sehr weit weg von der Hochschule der Künste, und dem U-Bahn-Fahren in Berlin fühle ich mich noch nicht gewachsen. In Bad Orks haben wir keine, also wo hätte ich es jemals trainieren können? Ich bin froh, dass mich noch kein Auto überfahren hat! Man könnte zusammenfassend feststellen: alles ist reichlich deprimierend, besonders, wenn ich an meine warme, gemütliche Wohnung im hessischen Bad Orks denke oder an die heimeligen Linoleum-Fußböden der städtischen Musikschule. Mein Zimmer hier teile ich mit einer stummen, griechisch-orthodoxen Haare-Rauferin, die ebenfalls wie ich eine ledige Pianistin ist und unter dem zusätzlichen Handicap leidet, kein Wort Deutsch zu verstehen. Ich schätze, sie würde ihre Beine gern hergeben, wenn sie dafür noch zwei Arme hätte, denn mit zwei Händen spielt sie Klavier, die anderen beiden braucht sie zum gleichzeitigen Haareraufen. Es wird sich wohl keine innige Freundschaft zwischen uns anbahnen, aber eine stumme Griechin, die tagsüber im Bett sitzt und auf ihre Notenbände Fingerübungen trommelt, ist mir noch wesentlich lieber als so eine Art Regina, die nie schweigt. Diese hier schweigt allerdings immer.
Draußen regnet es in Strömen und das Abgasgemisch der Großstadt dampft aus allen Auspuffen. Das stundenlange Wandern durch die Autoschlangen werde ich mir abgewöhnen müssen, wenn ich es hier in der Übeschlange mal zu was bringen will. Man munkelt, dass morgens um halb acht die ersten Bösendorfer und Steinways vergeben werden. Wusste ich es doch, dass meine internationale Künstlerkarriere deprimierend beginnen würde! Die Kladde Regina ist mein einziger Freund. Wer hätte das gedacht.
Die Übezelle war fensterlos und muffig, dafür lag sie auch im fünften Stock ohne Aufzug. Ich musste erst einen röhrenden Tenor vertreiben, der anscheinend seinen Flatulenzen freien Lauf gelassen hatte,
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