Karlo und der grüne Drache - Kriminalroman
reglos über dem Sattel. Eine weitere Sekunde später stand er wieder auf beiden Beinen. Er stellte das Rad zurück, ließ es wieder auf den Ständer kippen und ging misstrauisch auf Sauer zu.
Der hielt ihm mit ausgestrecktem Arm einen Zettel entgegen.
„Da, Kölner, da steht die Nummer drauf. Hab ich extra für dich aufgeschrieben. Und es ist auch noch ein Job zu vergeben, der gehört direkt zur Wohnung dazu. Aber rede am besten selbst mit dem Typen.“
Karlo zupfte das Zettelchen zwischen den Fingern des Magenbitter-Junkies heraus und begutachtete es misstrauisch. Eine Handynummer stand auf dem schmuddeligen, zerknitterten Papier. Darunter ein Name. Joe. Das war alles.
„Das ist der Vermieter. Die Wohnung ist in Alt-Fechenheim. In der Nähe der katholischen Kirche. Irgendwo da, schräg gegenüber. Ruf ihn an, aber bald. Ich habe den Zettel schon ein paar Tage in der Tasche.“
„So sieht er auch aus“, dachte Karlo. Aber er war ehrlich verblüfft. Irgendwie geschahen noch Zeichen und Wunder. Ausgerechnet Süßholz-Sauer!
Sauer war vor einer Weile in Fechenheim aufgetaucht. Er hauste in einer winzigen Wohnung, die er mit seinen kärglichen monatlichen Bezügen gerade so bezahlen konnte. Man erzählte sich, er sei Frührentner, und es gab eine Menge Leute, die ob dieser Tatsache einen gewissen Neid verspürten.
Es schien mittlerweile, als kenne er jeden und jeder kenne ihn. Auf eine unaufdringliche, aber beharrliche Weise schaffte er es, allgegenwärtig zu sein. Er sickerte gewissermaßen in die gesellschaftlichen Ritzen und Spalten des östlichen Frankfurter Stadtteils. Kam man in eine Kneipe, war Sauer da und schnorrte die Leute an. Ging man in den Supermarkt, stand Sauer vor der Kühltheke mit den fast abgelaufenen und deshalb stark heruntergesetzten Waren und wühlte nach Brauchbarem. Ging man am Main spazieren, konnte man sicher sein: Irgendwo saß Sauer auf einer Bank mit einer Flasche Bier in der Hand. War man zurück im Ort, stand er schon wieder am Büdchen, mit dem Rücken an die Mauer neben dem Ausgabefenster gelehnt, ein Fläschchen Underberg wie eine Trophäe in der Hand und beobachtete mit seinem leicht lauernden Blick die Passanten und die vorbeifahrenden Autos.
Seine weiterhin bestehenden Zweifel ließ sich Karlo nicht anmerken. Er bedankte sich bei Sauer und versuchte seine Verwirrung beiseite zu schieben. Möglicherweise stimmte die Geschichte. Aber trotzdem, ausgerechnet Sauer … na, er würde schon sehen. Und ein Job? Wäre vielleicht auch nicht schlecht.
Er schwang sich auf sein Fahrrad und winkte noch einmal knapp nach hinten, bevor er um die Ecke in die Jakobsbrunnenstraße einbog.
Mürrisch starrte Sauer auf seine fast leere Flasche. Er schlug mit der flachen Hand auf die Abstellfläche vor dem Ausgabefenster.
„Verfluchter Geizhals! Hätte wenigstens ein Bier springen lassen können …“
Einige Tage zuvor
2
Paul Perlig starrte angespannt auf seinen Bildschirm. Der begeisterte Hobbykoch saß in einem kleinen Büro der Immobiliengesellschaft
WMF – Wohnen mit Flair
in der Nähe des Hauptbahnhofs in Fulda. Die renommierte Firma verkaufte, betreute und vermietete Immobilien aller Art im gesamten Rhein-Main-Gebiet.
Paul war dabei, eine Verkaufsanzeige für eine kleine schlossähnliche Immobilie in der Nähe von Schlitz zu formulieren, als das schlechte Gewissen wieder hochkam. Nein, er hatte nichts angestellt. Es waren eher die Dinge, die noch nicht getan waren, die ihn quälten. Er dachte an seinen Garten, der auf der Südseite seines Elternhauses in Hofbieber angelegt war. Seit seine Eltern gestorben waren, bewohnte er das Haus alleine. Die Bäume mussten nun endlich geschnitten werden, einige Sträucher ebenso. Im Keller wartete ein zerlegtes Regal darauf, aufgestellt zu werden und genau so ging die umfangreiche Liste weiter. Leider gab es momentan sehr viel zu tun und es kam in den letzten Wochen oft vor, dass Perlig bis in die späten Abendstunden zu arbeiten hatte. Die letzten Wochenenden waren überwiegend Lokalterminen mit kaufinteressierten Kunden vorbehalten gewesen und so blieben die privaten Arbeiten unerledigt.
Er lenkte seinen Blick weg vom Bildschirm und betrachtete das Ölgemälde vor sich an der Wand. Man sah die obere Hälfte des Kirchturms von Kleinsassen hinter einer Anhöhe hervorlugen. Der Gedanke an das Rhöner Künstlerdorf, am Fuße der Milseburg, brachte Paul die Erleuchtung. Sein Freund Karlo Kölner aus Frankfurt kam ihm in den Sinn.
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