Karma-Attacke (German Edition)
der Scherbe und zerfetzte so auch seine Zunge. Er biss Teile von der Scherbe ab und spuckte sie mit Blut und Speichel gegen die Windschutzscheibe.
Kaltes Grauen kam über Marga. Sie hätte sterben können vor Angst, Scham und Wut auf sich selbst. Ackers saß, sich selbst verstümmelnd, in einem Hochgefühl, während sich Margas Spirale immer tiefer nach unten drehte.
Als Ackers endlich den Wagen verließ, traute sie sich nicht einmal, ihm nachzusehen. Sie wartete noch eine Weile ab, unsicher, ob ihre Gliedmaßen ihr gehorchen würden. Ob ihr Finger wirklich noch ihr Finger war und ihr Bein ihr Bein. Der Kontakt zwischen Körper und Geist schien ihr gestört, nichts war mehr selbstverständlich. Am liebsten hätte sie sich die Haut vom Körper gezogen und wäre in eine neue geschlüpft. Kein Wasser konnte heiß genug sein, kein Waschmittel scharf genug, um dies alles von ihr abzuwaschen.
Im Kofferraum hatte sie andere Sachen, doch die schienen geradezu unwirklich weit entfernt. Sie streifte sich ihr Kleid über, ließ den Reißverschluss am Rücken aber offen.
Immer noch spürte sie seine Finger, die wie Krallen über ihren Rücken kratzten. Erschauernd ließ sie den Motor an. Die Straße am See war menschenleer. Ein paar Boote dümpelten friedlich auf dem Wasser. Für Marga gab es nur noch die Entscheidung zwischen Leben und Tod. Einfach in den See fahren und ertrinken oder nach Deutschland zurückkehren und versuchen, wieder ein normales Leben zu führen - sofern es so etwas überhaupt gab. Leben oder Tod, dachte sie immer wieder wie die Endlosspule eines Tonbands. Leben oder Tod, Leben oder Tod, Leben oder Tod.
Sie zog das Lenkrad nach links und steuerte auf den See zu. Sie fuhr durch einen Vorgarten. Steine schlugen von unten gegen den Wagen. Reflexartig schloss sie die Augen und biss die Zähne zusammen. Gleich würde alles vorbei sein, gleich.
Doch der Wagen blieb in dem Zaun hängen, den ein besorgter Familienvater angebracht hatte, damit sein kleiner Sohn, der gerade erst Laufen gelernt hatte, nicht im See ertrank. Jetzt kam der Vater, seinen Sohn auf dem Arm, aus dem Haus gelaufen.
Marga stieg aus dem Wagen. Eine Schulter war frei. Blaue Flecke und Bisse waren zu sehen. Ihre Haare hingen strähnig herab. Nicht mal das schaffe ich, dachte sie. Ich war immer eine Versagerin, und ich werde es auch bleiben.
Sie konnte dem jungen Vater nicht ins Gesicht schauen. Als sie sich abwandte, fiel ihr Blick auf den Pilatus, dessen Spitze in den Wolken verschwand. Plötzlich wusste sie, dass sie sich für das Leben entschieden hatte. Sie umarmte den jungen Vater und bat ihn, die Polizei zu rufen. Und am besten auch einen Krankenwagen.
85
Sie stiegen in die feuchte Wolkendecke auf; der Professor ging voran, Vivien in der Mitte, Tom hinterdrein.
Tom trug den zweiten Rucksack.Damit wollte er Vivien entlasten, aber er wusste natürlich auch, dass sie ihn, wenn er das Zelt und einen Schlafsack hatte, nicht ohne weiteres zurücklassen konnten. Er hatte immer noch den Dolch im Stiefelschaft. Inzwischen zog er schon das linke Bein etwas nach, denn mit jeder kleinen Bewegung verletzte er sich selbst. Da war nicht mehr nur ein kleiner wunder Punkt, es fühlte sich an, als würde ihm das Fleisch hauchdünn vom Bein geschält.
Gerade als Tom in Versuchung geriet, das Messer aus dem Stiefel zu ziehen und an einer anderen Stelle zu verstecken, kam wie ein Blitz uraltes Wissen zu ihm zurück. Die Hillrucs auf Thara hatten sich selbst Schmerzen zugefügt, um wachsam zu werden vor einem Kampf, um den Zorn in sich zu wecken, um sich bereitzumachen.
Er stellte sich vor, wie er in der Dunkelheit beim Zeltaufbau das Messer zog und Professor Ullrich hinterrücks erstach. Jetzt, nachdem der Professor den Polizisten getötet hat, sieht alles anders aus, dachte er. Jeder müsste Verständnis für mich haben. Ich habe gesehen, was er mit diesem van Ecken gemacht hat. Dann hat er Vivien und mich mit in die Berge genommen. Wer will es mir verdenken, wenn ich die Gelegenheit nutze und ihn töte? Es ist in jedem Fall so etwas wie Notwehr, selbst wenn er mich nicht direkt angreift. Ich werde ein Held sein, nicht mehr der blöde kleine Verbrecher, der den Hauptschulabschluss nicht geschafft hat. Die Lehrstelle, die van Ecken mir besorgen wollte, werde ich nicht mehr brauchen. Wahrscheinlich kriege ich eine eigene TV-Talkshow.
Unwillkürlich lächelte er und dachte, das ist gar nicht unwahrscheinlich. In was für einer Welt leben wir? Warum
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