Karneval der Toten
dreinblickende, schmallippige Haushälterin von Manderley in dem Roman von Daphne du Maurier. So war Mrs. Murchison aber nicht, sondern rundlich, mit einem rosigen Gesicht und Augen in unbewölktem Blau. Das billige Goldkettchen um ihren Hals hielt ihre Brille, wenn sie sie nicht aufhatte. Sie hatte braunes, leicht angegrautes Haar, das sie aus Gesicht und Hals gerollt trug und mit Nadeln festgesteckt hatte, von denen sie nun eine herausnahm und erneut festklemmte. Jury fand es fast erschreckend, wie normal und alltäglich sie aussah. »Ja?«
Ein Ton, dachte Jury, der sanft und fragend klang. Ohne unterschwellige böse Ahnung oder Argwohn. »Mrs. Murchison?«
»Ja?«
Jury musste tief in seinem Inneren nach einer Antwort graben, zu der er sich zwingen musste. Er ließ es bei einem Lächeln bewenden, dem er nur mühsam etwas Wärme verleihen konnte. »Darf ich hereinkommen? Mr. Baumann hat mich geschickt.«
Das verschaffte ihm zwar Zugang, aber noch keinen Erkennungseffekt. Sie wirkte verblüfft, als sie die Tür etwas weiter öffnete. Dann standen sie in einem schwach erleuchteten Flur, wo ein langer, verzierter Holztisch an eine lebhafte Blümchen- und Rankentapete gerückt stand. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Herrn kenne. Baumann heißt er, sagten Sie?«
»Ja, genau.«
»Und Sie sind hier wegen...?«
Sie spielte immer noch die Unschuldige. Nun, er hatte nicht erwartet, dass sie zugab, mit was für Leuten sie und Baumann Umgang pflegten. »Wegen Ihrer Münzensammlung. Ich habe gehört, sie ist ziemlich bemerkenswert.«
Sie lächelte. »Ach, dieser Mr. Baumann. Der Sammler. Natürlich, natürlich. Kommen Sie doch ins Foyer!«
Er folgte ihr in den Raum zur Linken, der ebenso mittelmäßig war wie seine Bewohnerin. Unansehnliche Möbel, in dunkelbraunem Goldton bezogen, auf einem Regal Tassen und Untertassen, die mit der goldenen Aufschrift EIN GESCHENK AUS… auf ihre Herkunft aus Bognor Regis und Blackpool hinwiesen. Auf einem runden Mahagonitisch standen etliche gerahmte Fotos. Hier herein war sie gekommen, um eine große, mit Samt ausgeschlagene Schatulle, in der sich vielleicht fünfzig oder sechzig Münzen befanden, aus dem obersten Regalfach zu nehmen. Auf den unteren Regalen waren offensichtlich noch weitere.
»Dann sagen Sie mir doch«, meinte sie, »ob Sie eine ganz bestimmte Münze im Auge hatten.«
Das war sie, dachte Jury, die verschlüsselte Frage. Während er eingehend die Münzen betrachtete, hörte er wieder Baumanns Stimme: »Seit ich angefangen habe zu sammeln, habe ich erst zwei von denen gesehen.« Auf dem obersten Regal in der Mitte stand eine Münze, die mit der in dem Briefbeschwerer auf Baumanns Schreibtisch identisch war. »Wie ich sehe, haben Sie eine griechische Tetradrachme.«
»Ah, ja, eine hübsche Münze. Ziemlich wertvoll.«
War sie laut Baumann aber gar nicht. Jury war überrascht, dass die Frau nicht besser instruiert war. Dabei hielt dieser ganze numismatische Hokuspokus ihren Laden doch am Laufen. Andererseits, wieso sollte sie sich so gut auskennen wie Baumann? Schließlich kam keiner wegen der Münzen hierher.
Jury machte eine Bemerkung über die gerahmten Fotos. »Reizende Mädchen.«
»Meinen Sie meine Nichten?«
So hießen die Mädchen bei ihr also. »Ja, genau.«
Aus seiner Brieftasche zog er die Visitenkarte, die er von Baumann bekommen hatte, um sie Grace, seiner Sekretärin, zu überreichen. Er fragte sich, wo Baumann diese Murchison eigentlich aufgetrieben hatte. Und lag ihr an Baumann selbst (der Frauen gegenüber bestimmt unglaublich charmant sein konnte) oder am Geld (sicher reichlich) oder an der Macht? Man stelle sich vor, über acht bis zehn Kinder zu gebieten, ihr Schicksal in den Händen zu halten.
Das alles kam ihm rasch in den Sinn und war gleich wieder verflogen, während er ihr die Karte überreichte. Sie hielt sich die Brille vor die Augen und las. Jury kannte die kurze Anweisung auswendig:
Geben Sie Mr. Jury alles, was er will.
VB.
Und auf der Rückseite stand der übliche Text einer Visitenkarte.
Mrs. Murchison hob den Blick. »Ich verstehe. Aber ja, ich helfe Ihnen gern. Nehmen Sie doch einen Moment Platz, dann können wir Ihre, äh, Ihre Präferenzen besprechen!«
Inzwischen lächelte sie. Er vermutete, dass sie Kommission bekam, einen Anteil anstelle eines bloßen Gehalts, oder vielleicht zusätzlich dazu. In Anbetracht der Risiken, die die Frau einging, war es bestimmt eine ansehnliche Summe. Ob sie allerdings damit
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