Karneval der Toten
rechnete, dass Viktor Baumann ihr bei einer Polizeirazzia zu Hilfe kam? Verdammt unwahrscheinlich.
Während er sich auf einem mit grobem braunem Stoff bezogenen Zweiersofa niederließ, sagte Jury: »Sie tragen hier anscheinend große Verantwortung.«
Sie hatte auf einem passenden Sessel Platz genommen und nickte lächelnd.
Sehr mit sich und der Welt zufrieden, dachte Jury.
»Ja, ich bin für alles verantwortlich. Ich bin auch ganz auf mich gestellt, da ist nur noch eine Köchin und jemand, der jeden Tag kommt und sich um etwaige Probleme kümmert. Kinder können ja, äh, ganz schön widerspenstig sein. Haben Sie Kinder, Mr. Jury?«
Jury bemühte sich, seinen Ausdruck im Zaum zu halten, sein Gesicht leer und nichtssagend aussehen zu lassen, die kleinen Muskeln um seinen Mund erstarren zu lassen. Wieso merkte es diese Frau nicht, sein überwältigendes Verlangen, tätlich auf sie loszugehen? Er wusste es nicht. Wahrscheinlich, weil es ihr an jeglicher Vorstellungskraft und Empathie fehlte. »Nein, keine.« Gott sei Dank, war sein Gedanke in dem Moment. »Ich wüsste noch gern, was Sie verlangen.«
»Das kommt ganz darauf an.«
Worauf denn um alles in der Welt? Wie wollte man das abmessen? Er sagte jedoch nichts, wartete bloß ab.
»Es kostet fünfzig Pfund pro halbe Stunde, fünfundsiebzig die volle Stunde.« Zufrieden, dass sie bei der ganzen Transaktion das Sagen hatte, strich sie ihren Rock glatt. »Außer, Sie wollen zwei Mädchen, dann kommen noch mal dreißig dazu.«
Wie bei einer Taxifahrt. Noch’n Fahrgast, Kumpel? Das macht dann ein Pfund extra, ich dank auch schön.
»Und dann noch das Alter. Was bevorzugen Sie in dieser Hinsicht?«
Sie lehnte sich in ihrem Sessel vor und sah ihn mit funkelnden Augen auffordernd an.
Diese Transaktion versetzte sie doch tatsächlich in Erregung ! Natürlich, dachte er, um ein derartiges Risiko einzugehen – Johnny Blakeley könnte immerhin jederzeit, Tag und Nacht, vor der Tür stehen und sie ins Gefängnis schicken -, musste es um mehr gehen als um Geld, mehr als nur darum, Baumann zu gefallen. Dazu musste man dem Ganzen schon selbst einen gewissen Reiz abgewinnen können.
Johnny hatte sich wortreich über Kinderschänder ausgelassen und über deren Behauptung, was sie diesen Kindern gegenüber empfänden, sei Liebe, reine, schlichte Liebe.
»Vielleicht können wir es uns mal ansehen.«
Dieses »wir« war schon die Höhe.
Sie griff auf dem Beistelltisch neben ihrem Sessel nach einem Messingglöckchen, das tatsächlich hell klingelte. Jury hörte, wie etwas verrutschte, dann ertönte ein Geräusch wie Möbelrücken. Gleich darauf stand ein Mädchen in der Tür zum Foyer. Sie sah aus wie fünfzehn oder sechzehn, ziemlich groß, das blonde Haar mit einem rosa Samtband zurückgebunden. Hart und unerbittlich sah sie Jury an. Er fragte sich, wie lange sie wohl schon hier war. Bestimmt seit Jahren.
»Samantha«, sagte Irene Murchison, »bring uns doch mal April und Rosie herein.«
Was für liebliche, freundliche Namen. Er musste an Gärten denken – Heligan, Angel Gate, ja, sogar an den Garten hinter dem Haus in Islington, der überhaupt kein Garten war, abgesehen von dem kleinen Lilienbeet, das Mrs. Wasserman in den milden Frühjahrs- und Sommermonaten pflegte. Daran musste er denken, als er den Namen »Rosie« hörte.
»Ja, Mrs. Murchison«, sagte das Mädchen tonlos. Wie eine Schlafwandlerin.
Wieder beugte sich Irene Murchison mit diesem funkelnden Blick zu ihm herüber. »Rosie ist erst kürzlich zu uns gekommen. Sie ist unser Nesthäkchen, ganz neu. Sie verstehen, was ich meine?«
Das große Mädchen war wieder da, auf jeder Seite ein Kind. Das kleinere, etwa fünf, vielleicht sechs Jahre alt, musterte ihn neugierig und steckte den Daumen in den Mund. Es war, als hätte sie keine Ahnung, dass der Blick dieses Mannes sie zerstören konnte. Ihr Blick war fast erwartungsvoll, als könnte bei dieser Transaktion vielleicht ein Leckerbissen für sie herausspringen, als hätte der Mann vielleicht Bonbons in der Tasche.
Das Mädchen auf Samanthas anderer Seite war etwa acht oder neun und wirkte verängstigt. Dass sie sich noch enger an die Große drängte, die ungerührt, ohne jede Regung verharrte, zeigte Jury bloß, wie sehr April sich fürchtete. Als Samantha sie wegstieß und sagte, sie solle sich aufrecht hinstellen, wurde April nur noch verängstigter und drückte ihr Gesicht in Samanthas Seite. Samantha stieß sie weg. Vermutlich hatte sie auch einmal so
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