Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Karneval der Toten

Titel: Karneval der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Grimes
Vom Netzwerk:
ihre aufleuchtenden Augen. »Ich will die Zukunft aber gar nicht wissen. Ich will nicht wissen, welche Frau – oder Plural: welche Frauen – mir eins über die Rübe hauen und mich aufs Standesamt schleppen wird.«
    »Ach, tun Sie doch nicht so blöd!«
    »Blöd? Wieso?«
    »Sie bleiben hier sitzen, bis Sie ein alter Miesepeter sind.«
    »Ich bin bereits ein alter Miesepeter.«
    Er hörte das klack, klack, klack von Hundepfoten und das rasche Tappen von einem Paar Füßen. Gleich darauf kam Cody mit Stone herein.
    »Nette Buden haben Sie hier!«, sagte Cody mit größerer Begeisterung, als die Buden verdienten. Die Bemerkung war natürlich auf die Bewohner der Buden gemünzt, besonders auf eine bestimmte Bewohnerin. »Fertig?«, fragte er ganz nebenbei.
    Stone machte ein paarmal wuff, wuff . Es hörte sich immer an wie durch weiches Material, durch Watte oder Wolken oder Ähnliches. Stone war jedenfalls bereit.
    »Kommen Sie auch mit?« Cody war bemüht, es so klingen zu lassen, als wollte er, dass Jury mitkam.
    Der schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, ich glaube nicht.« Er sah von Cody zu Carol-Anne. Das fehlte noch, mein Sohn!
     
    Als sie weg waren, blieb er eine Weile reglos sitzen. Dann wurde er jedoch zunehmend unruhiger, während er auf einen dunklen Fleck an der Decke starrte. Vermutlich ein alter Wasserschaden. Er griff hinter sich nach einem Buch. Das Buch wollte er eigentlich gar nicht, sondern das, was darunter lag: den Obduktionsbericht, den Phyllis Nancy ihm ins Büro geschickt hatte.
    Woher war dieses Kind gekommen? Er wälzte Fragen im Kopf herum, auf die es keine Antwort gab, nur um die Lektüre des Berichts hinauszuschieben. Er zog die Lampe hinter sich auf die rechte Tischseite herüber, um damit die Seiten zu beleuchten.
    Die Kugel war zwischen dem fünften und sechsten Brustwirbel in den Rücken gedrungen und auf den Knochen getroffen, was die Austrittswunde vergrößert hatte. Es folgten weitere Details, kalt und klinisch, wie es sein sollte. Nur konnte Jury nicht vergessen, wie er sie hatte daliegen sehen. Die Spitzen ihrer schwarzen Lackschuhe waren nach innen gedreht, in einer dieser ungelenken Stellungen, die bei Kindern seltsamerweise immer anmutig aussehen. Sie war sechs Jahre alt, soweit sich dies überhaupt festlegen ließ.
    Johnny Blakeley war felsenfest davon überzeugt, dass das Kind aus der Hester Street Nummer 13 gekommen war. Aber Johnnys Überzeugung reichte nicht für die Beschaffung eines Durchsuchungsbefehls. Das Gesetz, überlegte Jury, schien eher den Bösewicht, den Schurken, den Übeltäter zu schützen. Jedenfalls kam es manchen Leuten so vor.
    Die Polizei war an jenem Abend ausgeschwärmt, dann gegangen, wiedergekommen und erneut ausgeschwärmt. Man hatte an jede Haustür geklopft, auch an die von Nummer 13, wo jene Mrs. Murchison wohnhaft war, die ganz oben auf Johnnys Liste stand, gleich nach Viktor Baumann. Der hatte das Haus unter ihre Aufsicht gestellt. Wie ließe sich die Spur nur bis zu Baumann zurückverfolgen?
    Nein. Das war ein Gedanke zu viel, wie es jemand einmal ausgedrückt hatte. Wenn er ständig versuchte, zu weit in die Zukunft zu blicken, wenn er sich zu viele Fragen stellte, würde ihn das nur zermürben. Er las den Bericht vollends zu Ende. Darin stand im Grunde das, was Phyllis schon damals vor Ort gesagt hatte, nur etwas detaillierter, aber ohne überraschende Neuigkeiten. Ihr Blick war der Kugel auf ihrer schnellen Bahn gefolgt, zudem hatte sie verschiedene andere Details ermittelt wie etwa den Zustand der Austrocknung und Unterernährung (keines von beiden lebensbedrohlich, zumindest nicht zum fraglichen Zeitpunkt).
    Diesen elenden Schurken kam es nur auf das Äußere, auf die Oberfläche an – die Porzellanpüppchenhaut ohne jede Spur von Schminke, das glänzende Haar. Die verführerische Macht der Unberührten. Warum war Unschuld so verlockend?
    Er saß da – stundenlang, wie er geglaubt hatte, bis er überrascht feststellte, dass bloß eine halbe Stunde vergangen war. Es war halb zehn. Er beschloss, zum Yard zu fahren. Vielleicht traf er dort Johnny Blakeley an. Johnny war bekannt dafür, dass er lange im Büro blieb: keine Frau, keine Kinder, keine Hypothekenzahlungen. Die verheirateten Kollegen beneideten ihn.
    Johnnys Schreibtisch war mit Papieren übersät und sah aus wie die letzte Müllhalde. Alles an ihm saß irgendwie schief – Schlips, Frisur, die Stapel auf seinem Schreibtisch. Er rauchte eine von diesen milden, teerarmen

Weitere Kostenlose Bücher