Karneval der Toten
angefangen wie diese Mädchen.
Inzwischen war sie Betreuerin.
Das Leiden der anderen Mädchen verschaffte ihr einen gewissen Trost, vermutete Jury. Oder die Gelegenheit, wieder in deren Welt einzutreten, nur eben diesmal mit Kontrollgewalt ausgestattet. Mit Macht. Wenn sie nichts daran hinderte, würde mit der Zeit eine zweite Irene Murchison aus ihr werden. Das arme Mädchen war wunderschön. Er bezweifelte, dass sie sich dessen bewusst war, und falls sie es wusste, machte sie sich nichts daraus oder lehnte ihre Schönheit sogar ab, denn man konnte ja sehen, was sie ihr eingebracht hatte. Einen Dreck.
»Was denken Sie?«
»Sie scheinen mir ja sehr nett, aber...«
Mrs. Murchison nickte Samantha kurz zu, und das ältere Mädchen führte die beiden weg. »Dann möchten Sie jetzt noch die anderen sehen?«
»Ja, gern.«
»Dann gehen wir doch ins Zimmer der Mädchen. Ja, das ist am einfachsten.«
Jury stand zusammen mit ihr auf, und sie gingen vom Empfangszimmer wieder in den düsteren Flur, der vom Foyer in den rückwärtigen Teil des Hauses führte. Der lange Tisch wurde von der Wand weggezogen. Das Gleitgeräusch, das Jury vorhin gehört hatte, stammte von einer in der Wand versenkbaren Schiebetür, die jedoch so bemessen und tapeziert war, dass sie genauso aussah wie die übrige Wand und daher vollkommen unsichtbar war. Deshalb also das Tapetenmuster. Der Raum, den sie sodann betraten, war ganz schmal und dabei sehr lang. Jury bezweifelte, dass von außen zu erkennen war, dass dieser Raum existierte, wahrscheinlich wunderte man sich wohl bloß über das Fehlen eines Fensters. Wer gezielt nach einem Geheimzimmer suchte, könnte es vielleicht entdecken. Ansonsten konnte jemand auf der anderen Seite dieser gemusterten Wand bis in alle Ewigkeit verschmachten. Es war wie in einem Schauermärchen. Nun gut, dann würde er eben den edlen Prinzen spielen, Kinder, ob es euch passt oder nicht.
Jury wusste nicht, was er eigentlich erwartet hatte – gellende Schreie, ungebührliches Benehmen, ein heilloses Durcheinander? Auf diese Stille war er allerdings nicht vorbereitet, auf diesen ordentlichen, säuberlich aufgeräumten Raum. Zehn kleine Mädchen, darunter auch die beiden, die Samantha inzwischen wieder hierher zurückgebracht hatte (sie selbst war verschwunden), saßen entweder auf ihren Bettchen – jedes sah wie frisch gemacht aus – oder standen daneben. Etwas weiter drüben stand Rosie mit einem älteren Mädchen zusammen, älter nur im Sinne dessen, dass sie zehn oder elf Jahre alt war. Das Mädchen hielt Rosie bei der Hand. April, das andere Mädchen, das Samantha ins Foyer gebracht hatte, stand neben dem vordersten Bett. Sie und die anderen Mädchen sahen zu Jury herüber und senkten dann sofort den Blick. An ihrer angespannten Körperhaltung konnte Jury erkennen, dass sie weglaufen wollten. Kämpfen oder fliehen. Keines von beiden war hier möglich. Wahrscheinlich hofften sie, wenn sie den Blick gesenkt hielten, wenn sie ihn nicht anschauten, würde er sie auch nicht anschauen. Dann wären sie unsichtbar, wie die unsichtbare Linie in der Tapete auf der anderen Seite.
Woher kamen sie? Waren sie von zu Hause weggelaufen? Hatte man sie hergelockt? Hatte man sie verkauft? Im Stich gelassen? Waren sie ziellos auf den Straßen herumgewandert? Waren sie von Spielplätzen, öffentlichen Parkanlagen oder Wegen entführt worden? Wie viele Kinder gingen in diesem Land jedes Jahr verloren und blieben vermisst?
Er sah zu der Bettenreihe hinüber und rechnete fast damit, Flora zu entdecken. Natürlich war die Flora auf den Fotos, die er gesehen hatte, erst vier gewesen. Inzwischen wäre sie sieben und sähe womöglich ganz anders aus. Er sah sich die Gesichter der Reihe nach an. Mit ihrem verschlossenen Blick erinnerten sie ihn an die Darstellungen von Kindern, die er auf Bildern in Kirchen und Kathedralen gesehen hatte, adligen Kindern, die im frühen Kindesalter gestorben waren und neben dem steinernen Herzog oder der Herzogin lagen. Er erinnerte sich an die beiden, die er in einer Kirche in Hertfordshire gesehen hatte – kleine Mädchen mit ineinander verschränkten steinernen Händchen. Wie waren sie wohl umgekommen? Durch Krankheit? Feuer? Eine verirrte Kugel? Waren sie vom Dach gefallen oder aus einem hohen Fenster? Wie? Das ging ihm durch den Kopf, während er die beiden dort hinten betrachtete, Rosie und das ältere Mädchen, das sie die ganze Zeit an der Hand hielt.
Rosie war es schließlich, die sich
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