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Karneval der Toten

Titel: Karneval der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Grimes
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unterwegs, so wie das Paar, das sein Auto dort geparkt hatte.
    »Ein paar Stunden, länger nicht«, sagte Phyllis.
    »Vermutlich weniger, würde ich denken. Man hätte sie doch bemerkt.«
    »Ich weiß. Stimmt, hätte sie länger als eine Viertelstunde unbemerkt hier liegen können? In dem weißen Kleidchen?«
    Weiß, mit Glockenblumen, dachte Jury, und blutgetränkt.
    Er würde das kleine Mädchen nie wiedersehen müssen, wenn er nicht wollte, wenn er es nicht für nötig erachtete. Doch Phyllis Nancy hatte keine Wahl. Sie würde die Autopsie durchführen müssen, sie würde das Kind aufschlitzen müssen. Wie hieß gleich die Stelle bei Emily Dickinson: Spalte den Singvogel und finde die Töne?
    Phyllis erhob sich. Er hatte Phyllis Nancy nie die Fassung verlieren sehen, in all den Jahren nicht, bei all den verstümmelten Leichen, die sie zusammen gesehen hatten. Nun, fürchtete er, stand es ihm bevor.
    Er irrte sich. Als sie vorhin auf den Tatort zugegangen war, hatte sie in diesem Kleid und den Smaragden königlich ausgesehen. Jetzt, blass und dreckverspritzt, sah sie immer noch königlich aus.
    Auf ihr Handzeichen hin fuhr der Leichenwagen näher an das kleine Mädchen heran.
    »Spalte die Lerche – du findest die Töne.« So hieß sie, die Zeile in dem Gedicht von Dickinson. Eine bizarre Vorstellung bei einer Obduktion. Jury blickte auf das unschuldige, gottverlassene Kind hinunter.
    Glockenblumen und Blut.
    Keine Töne.

2
    Wiggins kochte Tee, was an sich nichts Ungewöhnliches war, außer dass er dabei ziemlich geräuschvoll vorging: Die Teebüchse klapperte auf dem Regal, der Löffel klinkte gegen die Tasse, die Halbliterflasche Milch wurde auf den Schreibtisch geknallt, eine neue Packung Kekse aufgerissen. Wiggins wirkte bekümmert. Es war, als veranstaltete er diesen leichten Aufruhr, um seinen Kummer zu überspielen oder aber ihn deutlich kundzutun.
    Jury war soeben zur Tür hereingekommen und deutete den leichten Aufruhr als Warnsignal. »Was ist los, Wiggins? Sie sehen ja aus, als wären Sie einem Gespenst begegnet. Oder aber Chief Superintendent Racer.«
    »Ich habe eine schlimme Nachricht, Sir.« Er ließ zwei Teebeutel in die braune Kanne fallen, ohne Jury dabei anzusehen.
    Die schlimme Nachricht betraf ganz klar Jury. Er musste sofort an Mrs. Wasserman denken, die mittlerweile in den Achtzigern und die einzige potentielle Kandidatin für schlimme Nachrichten war. »Was?«
    Wiggins antwortete nicht gleich.
    »Na los, Wiggins. Ich glaube, ich kann damit fertig werden.«
    Wiggins schaltete den elektrischen Wasserkocher aus. »Ich fürchte... hmm, es geht um Ihre Cousine, Sir. Ihre Cousine – ist gestorben.«
    Einen kurzen, irrwitzigen Augenblick lang wusste Jury nicht, wovon Wiggins überhaupt redete. Er stand noch an der Tür, als setzte ihn die Todesnachricht außerstande, sich zu bewegen, bis ihm plötzlich die Cousine einfiel und die Welt sich erneut zu drehen begann. Seine Cousine oben im Norden, in Newcastle-upon-Tyne.
    »Mein Beileid, Sir. Ich mache Ihnen hier gerade eine schöne Tasse Tee.«
    Als ob Wiggins das nicht sowieso täte, Todesfall hin oder her. Jury musste fast schmunzeln über diese Wiggins’sche Antwort auf alle Eventualitäten des Lebens. Noch im Mantel setzte er sich hin, machte den Mund auf, sagte jedoch nichts.
    »Ihr Mann hat angerufen, wie heißt er -«
    »Brendan.«
    Wiggins goss Milch in die großen Henkeltassen. »Genau. Am Samstag sei die Beerdigung, sagte er.« Um sich eine nützliche Aufgabe zu verschaffen, überprüfte er seinen Schreibtischkalender. »Das wäre der sechste März.« Er reichte Jury seinen Tee.
    »Danke.«
    Vermutlich um eine Einschätzung des Ausmaßes von Jurys Trauer bemüht, erkundigte sich Wiggins: »Sie hatten nicht viel Kontakt, oder? Ich meine, so weit dort droben in Newcastle, das ging ja gar nicht. Ich hatte immer den Eindruck, sie war Ihnen irgendwie fremd.«
    Jury hatte beide Hände wärmesuchend um den Henkelbecher gelegt. »Stimmt.« Er überlegte. »Ihr Vater, also mein Onkel, nahm mich damals zu sich, als meine Mutter starb. Er war ein großartiger Mensch. Sie ist seine Tochter. Sie war nie so wie er, sie konnte mich nie richtig leiden -« Aber stimmte das denn? Brendan hatte genau den gegenteiligen Eindruck gewonnen: dass sie Jury nämlich sehr mochte und stolz war, dass er bei New Scotland Yard so ein hohes Tier war. Er rieb sich die Stirn. Würde er seine Meinung von ihr womöglich revidieren müssen?
    »Aus Eifersucht, würde mich

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