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Karneval der Toten

Titel: Karneval der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Grimes
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nicht wundern«, sagte Wiggins und blies auf seine Henkeltasse. »Weil ihr Dad Sie aufgenommen hat und das alles. Er muss Sie wirklich sehr gemocht haben.«
    »Stimmt.« Seine Cousine aber bestimmt nicht. Ihre Gespräche mit Jury waren oft mit scharfen Bemerkungen gespickt und (so vermutete er) voller Lügen. Er sagte: »Als ich sie das letzte Mal besuchte, schauten wir uns Fotos an, alte Schnappschüsse und so, und dabei brachte sie mich völlig durcheinander. Dinge, von denen ich glaubte, sie wären passiert, hatten sich überhaupt nicht zugetragen, behauptete sie. Am Ende wusste ich überhaupt nicht mehr, woran ich bin.«
    »Hört sich so an, als wollte sie Sie auf die Palme bringen.«
    »Vielleicht. Der Gedanke kam mir auch, oder Brendan hatte etwas in der Richtung gesagt. Meine Güte, man sollte wenigstens meinen, dass auf die eigenen Erinnerungen Verlass ist.« Er nahm einen großen Schluck Tee und stellte den Henkelbecher auf Wiggins’ Schreibtisch ab. »Ich gehe ein bisschen nach draußen. Ich brauche frische Luft.«
     
    Er überquerte den Broadway in Richtung St. James’ Park. Dort ließ er sich auf einer Bank nieder. Ihr Tod traf ihn wirklich. Hoffentlich hatte sie nicht zu sehr leiden müssen. Er hatte schon zu viele Menschen qualvoll sterben gesehen – von Schusswunden, Messerstichen verletzt. Manchmal sahen sie einen noch kurz davor mit angsterfülltem Blick an. Jury hatte gar nicht gewusst, dass sie krank gewesen war.
    Er mochte sich einreden, dass er seine Cousine ohnehin selten gesehen hatte und ihr nicht sehr nahe stand und sie sich eigentlich nie so recht gemocht hatten. Das funktionierte vielleicht im Leben, im Tod funktionierte es nicht. Der änderte wahrscheinlich sowieso alles. Irgendwie schaffte es der Tod, einem die Stützen wegzustoßen, die sorgsam aufgebauten Abwehrvorrichtungen zu zerschlagen. Zu welchen einfachen Schlussfolgerungen er im Hinblick auf Sarah auch gekommen war, sie waren ihm mittlerweile ebenso suspekt wie die Ereignisse während seiner Kindheit. Denn vielleicht hatte sie ihn gar nicht angelogen. Vielleicht war er tatsächlich noch ein Baby gewesen, als seine Mutter gestorben war, und nicht der Fünfjährige, der versucht hatte, sie aus den Trümmern ihres ausgebombten Wohnhauses zu zerren.
    Wie hatte er sich bloß so irren können? Was war mit den Kindern, die er in Schuluniformen hatte zur Schule trotten sehen? Damals wäre er am liebsten mit ihnen gegangen, nicht wahr? Und was war mit Elicia Deauville? Sie musste doch im Zimmer nebenan getanzt haben. Vielleicht war es ja ein anderes Zimmer, ein anderes Nachbarhaus, zu einer anderen Zeit.
    Nein. Sicher hatte Sarah sich das ausgedacht. War doch typisch für sie, oder -?
    Er erhob sich von der Bank und ging auf dem Gehweg weiter, die Hände wie ein alter Mann auf dem Rücken verschränkt. Und so fühlte er sich auch. Seine Cousine war zwar älter gewesen als er, aber nicht um so viel älter, dass er sie hätte einer »anderen Generation« zuordnen können.
    Hör auf, immer nur an dich zu denken, befahl er sich. Es gab schließlich noch Brendan und die Kinder, alle erwachsen außer dem Baby, dem Baby der Tochter, die unverheiratet bei ihren Eltern wohnte, wo Mutter sich um das Enkelkind gekümmert hatte, während ihr kokettes Töchterchen sich herumtrieb. Na, das musste sich ja jetzt wohl am Riemen reißen, was? Hätte es schon von vornherein tun sollen -
    O Gott, diese Krittelei! Wieso hackte er eigentlich dauernd darauf herum? Doch wohl nur, um sich abzulenken und vor der Erkenntnis zu drücken, was all das zu bedeuten hatte?
    Das war es: Eine Leere hatte sich aufgetan, die er nicht hatte kommen sehen, und nun wusste er nicht, wie er sie füllen sollte. Und das alles wegen des Todes einer Cousine, die er gar nicht richtig gekannt hatte. Eine fordernde, verbitterte, verlogene Frau, die ihren Mitmenschen keine Freude war, und doch... Sie war das Ende, abgesehen von ihm selbst. Sie war die Letzte gewesen, die Einzige, die seine Erinnerungen geteilt hatte, die Letzte, die teilgehabt hatte an diesem Bild von seiner Kindheit. Sie war die Letzte, bei der er nachfragen konnte, und ob sie nun log (sie würde es bloß Hänselei nennen) oder nicht, war eigentlich unerheblich.
    Jury blieb stehen. Seltsam. Vielleicht war es unerheblich, weil sie die Wahrheit sehr wohl kannte. Nun kannte sie außer ihm selbst keiner mehr. Irgendwie überkam ihn plötzlich das Gefühl, die Wahrheit wäre verschwunden und hätte die Vergangenheit

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