Karneval der Toten
schlechte Nachricht bekommen. Meine Cousine ist gestorben. Brendan ist ihr Mann. Deshalb versucht er wohl, mich zu erreichen. Um es mir zu sagen.«
»Das tut mir ja wirklich Leid. Jemanden aus der Familie zu verlieren, das ist das Schlimmste.«
Es war, als wären alle Familienmitglieder für sie in jedem Einzelnen vereint. Und eines zu verlieren, bedeutete, alle zu verlieren. »Sie war die letzte Angehörige, die ich hatte. Jetzt gibt es nur noch mich.«
»Ach je. Ach je.« Sie raffte den Bademantel fester um den Hals zusammen. »Das ist furchtbar. Man kommt sich so abgeschnitten vor. Ich weiß, mir ging es genauso. Wie ein Luftballon habe ich mich gefühlt. Höher und höher ist er nach oben geschwebt. Und Schwermut hielt mich fest wie eine Gefangene.«
Jury war überrascht. Mrs. Wasserman sprach nicht oft in Metaphern. »Das haben Sie aber gut ausgedrückt, Mrs. Wasserman. So ungefähr komme ich mir vor.«
»Könnte ich Ihnen vielleicht eine Tasse Tee machen?«
»Das ist nett von Ihnen, aber ich glaube, ich bin zu müde. Ich bin heute viel gelaufen.«
Sie schloss die Augen und nickte, offensichtlich war ihr die lindernde Wirkung von Fußmärschen vertraut.
»Also, dann sage ich Gute Nacht. Und danke für die Nachricht.«
Sie trennten sich, und jeder ging in seine Wohnung.
Als er die Tür zu seiner Wohnung im ersten Stock aufschloss, vernahm er ein kurzes Bellen, eher ein leises Knurren. Es war Stone, Carol-Anne war demnach ausgegangen. Wenn sie zu Hause war, kümmerte sie sich immer um ihn. Das taten sie alle, wenn sie konnten. Manchmal nahm Stan den Hund mit, aber nicht, wenn er viel unterwegs sein musste.
Jury nahm Stans Schlüssel vom Haken, ging in den zweiten Stock hinauf und schloss auf. Stone kam nicht wie die meisten Hunde gleich herausgeschossen, denn Stone war genauso cool wie Stan. Das Höchste, was er zur Schau stellte, wenn er aufgeregt war, war leichtes Schwanzwedeln. Er folgte Jury die Treppe hinunter, blieb dann aber in dessen Wohnung stehen, bis ihm bedeutet wurde, was er tun sollte. Er besaß die Geduld und Selbstbeherrschung dieser Gestalten in weißen Clownskostümen mit weiß bemalten Gesichtern, die bemerkenswert still standen, reglos wie Standbilder, für die sie von den Vorübergehenden ja auch gehalten wurden.
Jury holte den Knochen aus Rohhaut und legte ihn unten an sein Stuhlbein hin. Stone ließ sich nieder und begann zu kauen. »Ich setze dann Teewasser auf.«
Stone hörte auf zu kauen und sah zu Jury hoch.
»Willst du auch eine Tasse? Nein? Okay. Willst du was zu fressen?« Stone machte leise wuff. »Das heißt bestimmt ja. Okay.«
Er ließ Stone ruhig weiterkauen, steckte den Wassersieder ein, schwenkte eine Henkeltasse aus und warf einen Teebeutel hinein. Das Teewasser kochte, kaum dass er für Stone eine Dose Hundefutter in den Fressnapf gegeben hatte. Er rief den Hund, goss dann Wasser über den Teebeutel und ließ ihn ziehen, während er Stone beim Fressen zusah. Als das langweilig wurde, warf er den Teebeutel ins Spülbecken und ging zu seinem Sessel im Wohnzimmer. Er starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. Gleich darauf stand er wieder auf und wühlte in seiner Manteltasche nach den Räucherstäbchen.
Jury befestigte ein Stäbchen in dem unpolierten Halter aus Stein und zündete es oben an. Der Napf in der Küche klapperte, als würde der Hund ihn mit der Schnauze herumschieben. Bestimmt hatte Stone den Räucherdunst gerochen, den starken Patschuliduft, denn er ließ den Napf stehen, um dieser interessanteren Angelegenheit im Wohnzimmer nachzugehen. Er ließ sich neben dem Sessel nieder und beobachtete den Rauch, der sich spindelförmig an die Zimmerdecke erhob. Sein Blick wanderte vom Rauch zu Jury hinüber und wieder zurück. Dabei bebte seine Nase leicht, witterte den ungewohnten Geruch.
Bei jenem letzten Besuch in Newcastle im vergangenen Jahr hatte Sarah ihr Fotoalbum hervorgeholt, und sie hatten sich die Aufnahmen von sich als Kinder angesehen. Jury fühlte sich unweigerlich angegriffen, wenngleich Sarah nichts dergleichen im Sinn gehabt hatte. Und als sie dann über die früheren Zeiten zu sprechen begann, tat sie es ganz ohne Spott – sie hatte einfach nur die Fotos anschauen wollen. Das Album zwischen sich auf dem Tisch hatten sie dagesessen und die Seiten umgeblättert. Es war, als wollten sie mit diesem gemeinsamen Betrachten von Kindheitsbildern eine gewisse gegenseitige Anerkennung andeuten.
Ihre Frau, Mann? Ihre Freundin-Dame?
Nein, es
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