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Karneval der Toten

Titel: Karneval der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Grimes
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Die gesichtslosen Schaufensterpuppen schienen zu wissen, dass es im Fenster nicht viel zu gucken gab, kein Vergleich mit Fortnum’s. In ihren Sommerfähnchen der kommenden Saison, die so dünn waren, dass ein Windstoß sie wegwehen könnte, hielten sie die Köpfe geneigt oder leicht vorgereckt, als suchten sie nach einem Ausgang. Auf dem Bürgersteig verkaufte ein Jamaikaner seine illegale Ware, ein gewitzter Kerl, aber nicht so gewitzt, dass er Jurys Polizistenaura bemerkt hätte: Räucherstäbchen, winzige Fläschchen mit Parfüm, das so berauschend war, dass man davon in der Wüste aus den Latschen gekippt wäre.
    »Wird gefallen Ihre Frau, Mann, Ihre Freundin-Dame. Frauen mögen diese Zeug.«
    Jury erstand ein paar Räucherstäbchen und einen passenden kleinen Halter aus Stein.
    Jedes Mal – bei der Zeitung, den Schaufensterpuppen, dem Straßenhändler – konnte er für ein paar Augenblicke vergessen, dass sie tot war. Doch dann war es sofort wieder da.
    In den vergangenen Stunden hatte er mehr an seine Cousine Sarah gedacht als in den letzten zwanzig Jahren. Das war es, das Vermächtnis des Todes – jetzt war reichlich Zeit, über die vergeudete Zeit nachzudenken, die ungesagten Worte, die nicht miteinander geteilte Geschichte, bis es zu spät war. Es ist immer zu spät, hatte einmal jemand gesagt. Man kann nie genug getan haben, genug gesagt haben. Es war wie bei dem Bier, das immer viel zu schnell ausgetrunken war: die Witze über das hohle Holzbein, das Bierglas, das ein Loch haben musste. Der unstillbare Alkoholdurst. Für die Toten kann man nie genug tun. Man sucht Trost, aber es gibt keinen, hat es nie gegeben und wird es nie geben. Es gibt nur das allmähliche Abschleifen scharfer Kanten, damit man sich nicht bei jeder Bewegung hinterrücks überfallen fühlt, als sähe man die Toten plötzlich unverhofft um die Ecke biegen.
     
    Eine Weile fuhr er auf der Piccadilly Line und stieg dann in King’s Cross in die Northern Line um. Nur in der U-Bahn, dachte er, bekam man solche Gesichter zu sehen. Keines von denen sah glücklich aus, außer bei den Halbwüchsigen, die sich lärmend zusammengerottet hatten, doch selbst die wirkten in einem unbeobachteten Augenblick ziemlich jämmerlich.
    Während die uralte Northern Line bei den Fahrgästen die Zähne klappern ließ, musterte er das Mädchen, das ihm gegenüber auf der anderen Seite des Durchgangs saß. Sie war schön, schien sich daraus aber nichts zu machen. Sie saß ordentlich da, die Hände auf den zusammengepressten Knien hielten eine kleine Tasche fest. Ihr langes, glänzendes Haar sah aus wie in einer Shampooreklame. In der Reihe von Werbeplakaten über ihrem Kopf warb eines für ein Erkältungsmittel, dort war ein Skifahrer abgebildet, der sich glückselig in einen Schneehaufen stürzte. Während der Zug dahinratterte, sah Jury einem alten Schokoriegelpapierchen zu, das sich auf dem Fußboden zwischen hohen Absätzen und abgestoßenen Stiefeln hin und her bewegte. Er sah es dahinschweben und musste dabei an sich und Sarah denken, wie sie als Kinder froh und einträchtig in einen Süßwarenladen gegangen waren. Aber dieses Bild hatte er sich selbst zusammengereimt – er bezweifelte, dass sie oft zusammen irgendwohin gegangen waren.
    Ich kann das Katzenvieh nicht mal leiden.
    Sagst du so.
    Er stand auf und stieg an seiner Haltestelle – Angel – aus.
     
    Die Dunkelheit hatte er registriert, während er die Regent Street entlanggegangen war, nicht aber die Uhrzeit. Es war beinahe zehn Uhr. Wo um alles in der Welt hatte er sich die ganze Zeit bloß herumgetrieben?
    In Mrs. Wassermans Gartenwohnung brannte Licht, und gleich kam sie in ihrem alten Bademantel auch die Treppe herauf.
    »Mr. Jury, jemand hat versucht, Sie zu erreichen. Carol-Anne sagte, ich solle Ihnen sagen, auf Ihrem Anrufbeantworter seien zwei Nachrichten. Von einem gewissen Bernard.«
    »Brendan?«
    »Sie sagte Bernard.«
    Jury lächelte. »Carol-Anne hat manchmal Schwierigkeiten, meine Nachrichten richtig zu verstehen.« Na, das konnte man wohl sagen. Besonders Nachrichten von weiblichen Personen. Carol-Anne war schon immer der Ansicht gewesen, das einzige Leben, das Jury getrennt von ihr verbringen würde, war das im Jenseits. »Danke, Mrs. Wasserman.« Er wandte sich in Richtung Treppe.
    »Ist alles in Ordnung, Mr. Jury? Sie sehen blass aus.«
    Wie konnte sie das im Stockfinstern bemerken? Vielleicht hörte er sich einfach blass an. »Ja… Nein. Ich habe tatsächlich eine

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