Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Karneval der Toten

Titel: Karneval der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Grimes
Vom Netzwerk:
geschmust, sie geküsst, und das gilt als völlig natürlich. Warum ist es dann unnatürlich, diese Zuneigung weiter... diese Zuneigung auszuweiten?«
    Jury bemühte sich, ein möglichst ausdrucksloses Gesicht aufzusetzen, seine Gedanken zu klären, als würde er Bilder wie Möbelstücke herumschieben, um nicht darüber zu stolpern, um nicht die Hand auszustrecken, diesen Kerl am Schlips zu packen und ihn zu erwürgen. Erstaunlich, aber Baumann, ein gewiefter Geschäftsmann, schien gar nicht zu merken, dass er damit mehr oder weniger zugab, Kinderschänder zu sein. Oder falls er nicht selbst einer war, dass er immerhin Partei für sie ergriff. Weshalb würde er sie sonst rechtfertigen wollen? Es schien ihm auch gleichgültig zu sein, dass Jury aus einem ganz anderen Grund hier war als wegen Floras Entführung. Das war Jurys Absicht gewesen. Er sagte: »Etwas ganz anderes ist es, wenn ein Kind gegen seinen Willen verschleppt wird, nein, so was sollte nicht vorkommen.«
    »Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Und wenn der Dreckskerl, der Flora verschleppt hat, je gefunden wird, bringe ich ihn persönlich um.« Baumann machte mit seiner Zigarre kleine stechende Bewegungen in Jurys Richtung, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
    Jury zog sein kleines Notizbuch hervor und blätterte mit dem Daumen ein paar Seiten um, bis er zu einer unbeschriebenen kam, die er vorgab zu lesen. »Ein Chief Inspector bei der Polizei von Devon und Cornwall, ein gewisser Macalvie -«
    »Macalvie? Ach, mit dem können Sie mir gestohlen bleiben.«
    »Sie werden verstehen, dass wir in so einem Fall immer erst die Familienangehörigen unter die Lupe nehmen, besonders wenn es um einen Kampf ums Sorgerecht geht.«
    »›Kampf‹ würde ich es nicht nennen, Superintendent. Höchstens was Mary angeht. Sie war absolut uneinsichtig.«
    »Das Mitgefühl erntet unter solchen Umständen immer die Mutter.«
    »Mary hat es schon immer verstanden, Mitgefühl zu erregen.«
    »Als Flora verschwand, fuhren Sie da sofort nach Cornwall?«
    »Man hat mich erst Stunden nach der Entführung verständigt. Die City Police stand plötzlich bei mir vor der Tür und behauptete, die Kripo von Devon und Cornwall hätte sie gebeten, mich aufzusuchen. Ich wurde eine Stunde lang vernommen, man fragte mich immer wieder das Gleiche: Was ich von der Sorgerechtsverhandlung hielte und davon, dass meine Frau wieder geheiratet hatte.« Er lehnte sich zurück, zog seine Weste zurecht und wirkte sehr selbstzufrieden, als wäre die Tatsache, dass er sich mit der Polizei abgab, allein schon ein Grund zur Selbstzufriedenheit. »Nein, ich bin nicht nach Cornwall gefahren. Ich sah irgendwie keinen Sinn und Zweck darin.«
    Nein, dachte Jury, bestimmt nicht, da das einzig Wichtige für ihn er selbst war und nicht die verzweifelte Notlage einer Frau, die er einst vorgegeben hatte zu lieben.
    Baumann paffte seine Zigarre. »Dieser Scott – was ist denn das für einer? Vermutlich niederer Landadel? Was macht der eigentlich? Wahrscheinlich gar nichts.«
    »Hat er wohl auch nicht nötig. Nicht so wie wir armen Schlucker, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen.«
    Dass er sich selbst – sie beide – als arme Schlucker bezeichnete, gefiel Baumann offensichtlich. Er lachte. »Ich sehe schon, Sie sind ein Kerl ganz nach meinem Geschmack.«
    Jury hätte sich fast die Zunge abgebissen. Bestimmt lag es daran, dass Viktor Baumann annahm, Jury befände sich auf seiner Wellenlänge, dass er vergaß, einen Kriminalbeamten vor sich zu haben.
    »Mr. Baumann, ich danke Ihnen sehr, dass Sie sich für mich Zeit genommen haben. Das war sehr freundlich.«
    Baumann brachte ihn zur Tür. »Jederzeit, Superintendent, jederzeit.«
    Den Weg zur Toilette bekam Jury von der Sekretärin gewiesen, überrascht, dass er Viktor Baumann so lange von seinen Terminen hatte abhalten können, fast wie ein Gladiator, der auf das Siegeszeichen wartete.

28
    Auf dem Rückweg nach Tower Hill bog Jury von der Fenchurch Street ab und ging weiter in Richtung Lower Thames Street. In einer der kleinen Straßen kam er an dem neuen Bürogebäude vorbei, das auf dem Grundstück errichtet worden war, wo einst das Blue Last gestanden hatte, bevor eine Bombe es im Krieg dem Erdboden gleichgemacht hatte. Das Pub war in seinem Bewusstsein inzwischen ebenso fest eingebettet wie in dem der Familie, der es gehört hatte. Einige Familienmitglieder waren bei der Explosion gestorben, andere lebten noch.
    Er nahm den gleichen Weg wie damals,

Weitere Kostenlose Bücher