Karneval der Toten
als er ein paar Mal zur Polizeistation Snow Hill gegangen war, um Mickey zu besuchen. Aber dann musste er an Liza und die Kinder denken und wusste, dass es keine gute Idee gewesen war, diesen Weg zu nehmen.
Um das Liberty Bounds sollte er aus dem gleichen Grund wohl besser auch einen Bogen machen. Tat er aber nicht. Es war zwölf Uhr mittags, und er wollte wie jeder andere auch etwas trinken und vielleicht eine warme Mahlzeit zu sich nehmen.
Das Liberty Bounds war ein recht stattliches Pub und bereits gut besucht, obwohl es zum Mittagessen noch etwas früh war. Jury setzte sich an die Theke und bestellte ein Adnam’s, zur Abwechslung einmal in der Flasche statt vom Fass, denn es machte ihm Spaß, die Etiketten von den Bierflaschen zu zupfen.
Er trank, dachte nach und zupfte an dem Adnam’s-Etikett herum. Dann zog er das Polizeifoto der immer noch namenlosen Frau hervor und wusste auf einmal, dass sie gar nicht existierte. O ja, sie war aus Fleisch und Blut – totem Fleisch -, hatte jedoch in Wirklichkeit als eine andere existiert, eine, die tatsächlich vermisst wurde. Sie hatten nach der falschen Frau gesucht. Abgesehen von Mary Scott und Dora Stout hatten nur wenige Leute sie in der Aufmachung dieser Frau auf dem Foto gesehen. Das Personal bei Brown’s – der Concierge vielleicht, der Kellner, der die Getränke serviert hatte -, aber sonst wohl kaum jemand. Sie sah ja so unscheinbar aus, wer würde sich da schon an sie erinnern?
Rauch und Spiegel. Er blickte gerade in den, der über der Bar hing. Das gleiche Gesicht, der gleiche Ausdruck, den er in seinem Badezimmerspiegel sah. Gleiche Augen, gleiches Haar, gleiche -
Erneut betrachtete er das Foto der Toten. So unscheinbar, wer würde sich da schon an sie erinnern? Und doch hatten es alle getan, die sie gesehen hatten. Das Einprägsame an ihr war, dass sie nicht einprägsam war.
Hastig kramte er das Albummäppchen mit dem Foto von Lena Banks hervor – was aber, wenn die andere Seite der Medaille von atemberaubender Schönheit war?
Jury holte sein Mobiltelefon heraus. Batterie leer. Er hatte wieder vergessen, sie aufzuladen. Er erkundigte sich beim Barkeeper, wo das Telefon war, und wurde nach oben verwiesen. Während er die Treppe hochstieg, spürte er, wie ihn eine Trägheit überkam, die gestern noch nicht da gewesen war... Menschenskind, jetzt beweg dich, sagte er sich und nahm die verbleibenden Stufen zwei auf einmal.
Das letzte Läuten seines Telefons ertönte just in dem Moment, als Brian Macalvie die Haustür aufschloss. Er riss den Hörer hoch. Weg! Genervt schmiss er seine Schlüssel auf das Tischchen am Eingang und ging in die Küche, wo er eine Flasche Bier aus dem spärlich bestückten Kühlschrank nahm (in dem sich außer der Milch für seinen Tee nichts befand). Dann ging er hinüber in sein Schlafzimmer.
Dort ließ er sich aufs Bett fallen, trank sein Bier und versuchte gleichzeitig, an den Fall zu denken und doch nicht daran zu denken. Das erste Mal war es schon schlimm genug gewesen: als die kleine Flora verschwunden war. Jetzt war es noch schlimmer, weil ihm auch das Scheitern des ersten Males bewusst war und die Tatsache, dass dieses Scheitern diesmal einen Mord nach sich gezogen hatte.
Er nahm wieder einen Schluck aus der Bierflasche und dachte an Declan Scott. Er musste unbedingt nach Angel Gate! Je mehr er über das nachdachte, was er glaubte, desto überzeugter wurde er davon. Es ergab alles einen Sinn. Familienangehörige gerieten immer als Erste unter Verdacht.
Macalvie lag da, trank sein Bier und sah an die Decke hoch. Und nun dachte er an Cassie. Als er damals bei dem gottverlassenen Cottage im Fleet Valley angekommen war, hatte er festgestellt, dass sie kurz zuvor erschossen worden war, so kurz zuvor, dass die Milch in ihrer Müslischale noch ganz kalt glänzte. Auch hatte ihr der, der sie erschossen hatte, nicht erspart, es kommen zu sehen. Nein, sie hatte sehen müssen, wie die Waffe sich ihr genähert und auf sie gezielt hatte. Diese Gnadenlosigkeit galt aber eigentlich nicht ihr, sondern Macalvie. Und was für ein brillanter Schachzug, welch perfekte Rache: die Kleine zu erschießen und dafür zu sorgen, dass er sie fand – etwas Schlimmeres konnte er sich nicht ausdenken. Seinetwegen war sie verschleppt worden, seinetwegen war sie erschossen worden.
Zumindest (und es war das Allermindeste, ein Trost war es nicht) wusste ihre Mutter, was passiert war.
Das Telefon begann wieder zu läuten. Er sollte eigentlich
Weitere Kostenlose Bücher