Karneval der Toten
drangehen. Er tat es nicht.
Er legte den Arm über die Augen und versuchte, nicht an Cassie zu denken, und merkte, dass er an nichts denken konnte außer an Cassie, wie sie dasaß mit einer Kugel im Leib und diesem angstvollen Blick in den Augen.
29
In jener kalten Nacht hob Declan Scott wortlos den Blick von dem kleinen Fotoalbum und schien darauf zu warten, dass Jury erklärte, was er sich selbst nicht erklären konnte: dass Georgina Fox gar nicht Georgina Fox war. Sondern Lena Banks.
»Es tut mir Leid«, sagte Jury. »Es gibt wohl kaum etwas Schlimmeres als zu erfahren, dass jemand, den man geliebt hat, sich als Trugbild entpuppt. Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll.«
Declan unterdrückte ein Lachen. Er hatte vor dem Kamin gestanden, um sich das Album anzusehen, und trat nun zu dem Ohrensessel gegenüber von Jury. Achtlos warf er das Album auf den Tisch zwischen ihnen, trank seinen Whiskey und blickte über das blaugrüne Teppichmeer. Dabei schüttelte er immer wieder ungläubig den Kopf. »Machen Sie sich nichts draus, Superintendent. Es tut mir nicht weh, es wundert mich nur. Diese Ermordete soll Georgina sein?«
»Lena Banks.«
Declan schüttelte den Kopf und rieb sich mit der Handwurzel über die Stirn. »Ich war eigentlich nie richtig in sie verliebt. Ich fühlte mich nach Marys Tod nur irgendwie so leer. Wissen Sie, was ich meine? Sie sehen aus, als wüssten Sie es.« Er lächelte. »Marys Platz kann wohl niemand einnehmen. Ich habe sie wirklich geliebt.«
Es war eine so schlichte Erklärung. Die für Patricia Quint vermutlich nichts Gutes verhieß, dachte Jury. »Es muss ja auch keine andere Frau ihren Platz einnehmen. Sie schaffen einfach einen neuen Platz.«
Declan lächelte. »Natürlich, Sie haben Recht.« Er beugte sich herüber und klappte das Album auf. »Wie, sagten Sie, ist ihr richtiger Name?«
»Lena Banks.«
»Lena Banks.« Declan stützte den Kopf nach hinten gegen die Sessellehne. »Paris. In der seelischen Verfassung, in der ich mich damals befand, ist es wahrscheinlich gefährlich, nach Paris zu fahren.«
»Es wäre überall gefährlich gewesen.«
»Lena Banks.« Als würde sich die Täuschung verziehen, wenn man es nur oft genug wiederholte. »Ich war damals so deprimiert. Diese Leere war schuld daran und diese Hoffnungslosigkeit. Und das Gefühl, versagt zu haben. Ich hatte wirklich das Gefühl, vor Mary versagt zu haben, weil ich Flora nicht zurückbringen konnte.«
»Wie hätte das denn gehen sollen? Sie wussten doch gar nicht, weshalb sie entführt worden war, und es gab keine Spur, die irgendwohin geführt, in irgendeine Richtung gewiesen hätte. Keine Anrufe, keine Lösegeldforderungen. Nichts. Wenn es Versagen war, dann war dieses Versagen unausweichlich.« Jury beugte sich zu ihm hin, zu diesem Mann, der schon genug durchgemacht hatte, auch ohne eine bloße Schachfigur in einem von Baumanns Spielen zu sein. »Hören Sie: Ich will von Ihnen wissen, was Sie Lena Banks alles erzählt haben – beziehungsweise Georgina Fox. Sie haben mit ihr doch bestimmt über Mary und Flora gesprochen.«
Declan nickte, die Hand über die Augen gelegt, als schämte er sich, daran erinnert zu werden.
Jury sagte: »Warum auch nicht? Darüber zu reden, hat den Schmerz wahrscheinlich ein wenig gelindert. Normalerweise ist das so.«
»Ich bin sonst immer recht zurückhaltend, was andere Frauen betrifft. Manchmal denke ich, ich komme deshalb auch so schwer von der Vergangenheit los. Oder umgekehrt: Ich klammere mich so an die Vergangenheit, weil ich mich nicht wieder binden will.«
Jury ließ den Blick im dunklen Zimmer umherschweifen. Der Engel auf dem Kaminsims wirkte mit seinen verdeckten Augen gefasst, doch fast verzweifelt gefasst – wie Declan Scott.
»Meine Mutter sagte immer, ich sei der jüngste altmodische Kerl, den sie kenne. Aber ich glaube, sie war insgeheim froh, dass Mary hier im Haus nichts veränderte. Sie ließ nur für Flora das Kinderzimmer gelb streichen, mehr auch nicht.«
Jury beugte sich zu ihm hin. »Was haben Sie Lena Banks über Flora erzählt?«
Declan lehnte sich zurück. »Ich habe viel über sie gesprochen. Georgina – ich meine, Lena – hörte zu. Sie zeigte sich entsetzt über das, was geschehen war, und wollte wissen, ob ich irgendeinen Verdacht hätte. Ich sagte, ja, Floras Vater. Der Mann hatte viel Macht und war daran gewöhnt, seinen Willen durchzusetzen – ein Größenwahnsinniger, soviel ich gehört hatte. Höchstwahrscheinlich
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