Karparthianer 02 Dunkle Macht des Herzens
angeborenes Mitgefühl, stärker als das Bedürfnis einer Arztin, anderen zu helfen. Sie wollte, dass er am Leben blieb.
Er musste am Leben bleiben. Sie musste eine Möglichkeit finden, ihn von seinen furchtbaren Schmerzen zu befreien. »Ich muss ein paar Sachen holen.
Ich mache, so schnell ich kann. Ich bin bald wieder da, das verspreche ich.« Sie stand auf, wandte sich um und ging einen Schritt in Richtung Treppe.
Er bewegte sich so schnell, dass sie ihn nur verschwommen wahrnahm, packte sie am Hals und warf sie um, sodass sie quer über ihn fiel. Seine Zähne 62
schlugen sich in ihre entblößte Kehle. Der Schmerz war grauenhaft. Er trank gierig von ihr, ein wildes Tier, das außer Kontrolle geraten war. Sie kämpfte gegen den Schmerz, gegen die Sinnlosigkeit seines Handelns.
Ertötete die einzige Person, die ihm helfen konnte.
Blindlings schlug sie mit einer Hand um sich und erwischte sein tiefschwarzes Haar. Ihre Finger verschlangen sich in der schmutzigen, dichten Mähne und blieben dort, als sie nahezu leblos an seinen Oberkörper sackte. Das Letzte, was sie hörte, bevor sie die Besinnung verlor, war sein Herzschlag. Zu ihrer Betroffenheit versuchte ihr eigenes Herz, dem stetigen, kräftigen Rhythmus zu folgen.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann war ein rasselnder Atemzug zu hören, als ihr Körper ums Überleben kämpfte. Das Wesen starrte ihren schlaffen, schlanken Körper aus dumpfen Augen an. Je stärker und wacher er wurde, desto schlimmer wurden die Schmerzen, so schlimm, dass sie ihn zu überwältigen drohten. Er hob seine freie Hand, biss in sein Gelenk und presste ein zweites Mal die klaffende Wunde auf ihren Mund. Seine Schmerzen waren unermesslich groß, und er wusste kaum, was vorging. Er war so lange begraben gewesen, dass er sich nicht erinnern konnte, in seinem Leben je etwas anderes als Schattierungen von Grau und Schwarz gesehen zu haben. Jetzt taten ihm die Augen von der gleißenden Helligkeit der Farben weh, die ihn umgaben. Er musste diesem Kaleidoskop bunter Farbtöne entkommen, den Schmerzen, die mit jedem Moment heftiger wurden, und den unbekannten Empfindungen, die auf ihn einstürmten.
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Shea kam langsam wieder zu sich. Sie lag mit dem Gesicht auf der Erde, ihre Kehle war wund und pochte vor Schmerzen, und wieder hatte sie diesen süßlichen, metallischen Geschmack im Mund. Ihr war schlecht und schwindlig, und sie spürte instinktiv, dass die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte. Ihr Körper war bleischwer. Wo war sie? Ihr war kalt, und sie hatte jedes Orientierungsgefühl verloren. Shea hievte sich mühsam auf die Knie und musste dann den Kopf vorbeugen, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Noch nie hatte sie sich so schwach und hilflos gefühlt. Es war ein erschreckendes Gefühl.
Als unvermittelt die Erinnerung zurückkehrte, schleppte sie sich hastig auf allen vieren über den Boden.
Mit dem Rücken zur Wand und durch die ganze Breite des Raums von der Öffnung in der Wand getrennt, starrte sie entsetzt auf den Sarg. Der Mann lag da, als wäre er tot. Kein Herzschlag war zu erkennen, keine Atmung. Shea presste ihre zitternde Hand an ihren Mund, um einen Schluchzer zu unterdrücken. Sie würde nicht in seine Nähe gehen, ob er nun tot war oder nicht.
So klug dieser Vorsatz auch sein mochte - noch während sie ihn fasste, spürte sie erneut das Verlangen, dem Fremden irgendwie zu helfen. Irgendetwas in ihr wollte ihn nicht aufgeben.
Vielleicht irrte sie sich, was die Blutkrankheit anging.
Gab es tatsächlich so etwas wie Vampire? Der Mann hatte sie eindeutig gebissen; seine Schneidezähne waren scharf und mussten ein Mittel enthalten, das die Blutgerinnung hemmte, ebenso wie sein Speichel heilend wirkte. Shea rieb sich die pochenden Schläfen. Der Drang, ihm zu helfen, war überwältigend und so inten-64
siv, dass sie sich wie besessen davon fühlte.
Irgendjemand hatte sich Zeit dabei gelassen, diesen Mann zu foltern, und es offenbar genossen, ihn leiden zu sehen. Man hatte ihm so viel Schmerz zugefügt wie nur irgend möglich und ihn dann lebendig begraben. Gott allein wusste, wie lange er dieses Grauen ausgehalten hatte. Sie musste ihm helfen, um welchen Preis auch immer. Es war unmenschlich, auch nur daran zu denken, ihn in diesem Zustand zurückzulassen. Es war mehr, als sie ertragen konnte.
Mit einem Seufzer richtete sie sich mühsam auf und lehnte sich an die Wand, bis sich der Keller nicht mehr vor ihren Augen drehte. Ob Mensch oder Vampir, sie
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