Karparthianer 02 Dunkle Macht des Herzens
beobachtete sie mit dem unverwandten Blick eines Raubtiers. Als er aufgewacht war, war er allein gewesen und immer noch ein Gefangener. Furcht, Schmerz und unerträglicher Hunger beherrschten ihn. Seine dunklen Augen hefteten sich anklagend auf sie, voller Zorn und mit der dunklen Verheißung auf Vergeltung.
»Hör mir zu. Versuch bitte zu verstehen, was ich sage.«
Sie War so verzweifelt, dass sie die Zeichensprache benutzte. »Ich rnuss dich in meinen Wagen bringen. Es wird wehtun, das weiß ich. Wenn du genauso veranlagt bist wie ich, werden Schmerzmittel nichts nützen.« Sein starrer Blick brachte sie aus der Fassung, und sie geriet ins Stammeln. »Schau mal«, fuhr sie eindringlich fort,
»ich habe dir das nicht angetan. Ich versuche wirklich mein Bestes, um dir zu helfen.«
Seine Augen befahlen ihr, einen Schritt näher zu kommen. Als Shea eine Hand hob, um ihr Haar zurückzustreichen, stellte sie fest, dass sie zitterte. »Ich werde dich festbinden müssen, wenn ich das Seil an dem
. . . « Sie brach ab und biss sich auf die Lippe. »Starr mich nicht so an. Es ist ohnehin schon schwer genug.«
Vorsichtig trat sie näher. Es kostete sie alles, was sie an Mut besaß, an seine Seite zu treten. Er konnte ihre Angst riechen, das heftige Pochen ihres Herzens hören.
Entsetzen lag in ihren Augen und ebenso in ihrer Stimme, und trotzdem kam sie zu ihm. Er hatte ihre Hilfe 68
nicht mit seiner Willenskraft erzwungen, weil die Schmerzen ihn zu sehr schwächten und er beschlossen hatte, seine verbliebenen Kräfte zu schonen. Es erstaunte ihn, dass sie trotz ihrer Furcht näher kam. Ihre Finger ruhten kühl auf seiner Haut und strichen beruhigend über sein verschmutztes Haar.
»Vertrau mir. Ich weiß, dass ich viel verlange, aber das ist alles, was ich tun kann.«
Die Augen, die wie schwarzes Eis wirkten, wichen keinen Moment von ihrem Gesicht. Langsam und behutsam, um ihn nicht zu erschrecken, legte Shea zusammengefaltete Tücher rund um den hölzernen Pfahl, während sie insgeheim hoffte, dass es den Mann nicht umbrachte, wenn er bewegt wurde. Sie deckte ihn mit einer Decke zu, um ihn vor der Sonne zu schützen. Er beobachtete sie einfach, scheinbar teilnahmslos, aber allein an seiner Haltung erkannte sie, dass er angespannt und bereit war zuzuschlagen, falls es erforderlich sein sollte. Als sie ihn in dem Sarg anbinden wollte, um zu verhindern, dass beim
Hochhieven seine Wunden aufbrachen und erneut bluteten, umschloss er ihr Handgelenk in dem eisernen Griff, der ihr allmählich vertraut war.
Auf den Fotos, die Don Wallace und Jeff Smith ihr vor zwei Jahren gezeigt hatten, waren einige ihrer Opfer geknebelt gewesen und hatten Binden vor den Augen getragen. Es ließ sich nicht leugnen, dass dieses Geschöpf hier genauso wie der Mann aus ihren Träumen und wie der Mann auf einem der Fotos aussah, aber wie könnte er es überlebt haben, sieben Jahre in diesem Keller begraben gewesen zu sein?
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In dem Sarg lagen Stofffetzen. Ein Knebel für den Mund? Eine Augenbinde? Sheas Magen schnürte sich schmerzhaft zusammen. Nicht einmal, um seine Augen zu schützen, konnte sie ihm eine Binde vorlegen. Sie konnte nichts von dem wiederholen, was diese Mörder ihm angetan hatten.
Sein schmutziges Haar war sehr lang und wirr und fiel ihm strähnig ums Gesicht. Sie verspürte den beinahe unwiderstehlichen Drang, es ihm von den Wangen zu streichen, es mit zarten Fingern zu berühren und die letzten sieben Jahre mit einer Liebkosung auszulöschen.
»Na gut, ich lasse deinen Arm frei«, beruhigte sie ihn.
Es war schwierig, ruhig und wie gebannt von seinem sengenden Blick stehen zu bleiben und auf seine Entscheidung zu warten. Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Shea konnte den Zorn spüren, der unter der Oberfläche brodelte. Mit jeder Sekunde, die verstrich, fiel es ihr schwerer, nicht den Mut zu verlieren. Sie war sich keineswegs sicher, ob dieser Fremde auch nur halbwegs bei Verstand war.
Widerstrebend löste er einen Finger nach dem anderen und ließ sie los. Shea beging nicht den Fehler, seinen Arm noch einmal zu berühren. Ganz vorsichtig befestigte sie das Seil an dem Griff, der sich oben am Sarg befand.
»Ich muss das hier über deine Augen legen. Die Sonne geht gerade unter, gibt aber noch genug Licht, um dich zu blenden. Ich lege das Tuch einfach darüber; du kannst es jederzeit wegnehmen.«
Im selben Moment, als sie das Tuch auf seine Augen legte, riss er es herunter und packte sie warnend am Handgelenk.
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