Karparthianer 02 Dunkle Macht des Herzens
allein und wehrlos in der Hütte lag. Sie konnte ihn nicht im Stich lassen. Sie würde ihn nie verlassen, solange er so hilflos war, sondern alles so arrangieren, dass er auch allein zurechtkam. Sie selbst würde nur noch Wasser zu sich nehmen. Sie durfte kein Risiko eingehen, ehe sie nicht genau wusste, womit sie es hier zu tun hatte.
Shea wanderte flussabwärts und von ihrer Hütte weg.
Sie fühlte sich sehr allein. Ihr Geist drängte sie dazu, mit Jacques in Verbindung zu treten. Sie brauchte seine Wärme und den Trost seiner Nähe. Shea dachte über diese Empfindung nach. Jacques sagte offensichtlich die 152
Wahrheit. Sie war ihr ganzes Leben lang allein gewesen, und sie hatte niemanden gebraucht, schon gar nicht ein Wesen, dessen Geist zerrüttet und dessen Natur die eines Killers war. Trotzdem musste sie wissen, dass er nicht litt, dass ihm in ihrer Abwesenheit nichts zugestoßen war.
Entschlossen stieg sie in den Bach. Das eiskalte Wasser betäubte ihren Körper, aber nicht ihren Geist. Indem sie ihren eisernen Willen einsetzte, der durch eine Kindheit der Isolation diszipliniert worden war, widerstand Shea dem Drang, in Jacques' Bewusstsein einzutreten. Das Wasser war sehr kalt, und bald konnte sie ihre Füße nicht mehr fühlen, aber es half ihr ein wenig, einen klaren Kopf zu bekommen.
Jacques ließ das dritte Reh los und sog scharf den Atem ein. Shea war sehr willensstark. Er wusste, dass sie sich mit aller Kraft gegen ihr inneres Band sträuben würde. Ihre Kindheit war die Hölle gewesen, aber sie hatte überlebt und war zu einer starken, brillanten und mutigen Frau herangewachsen. Er sehnte sich danach, sie zu beruhigen und zu trösten, aber er wusste, dass sie seine Einmischung nicht begrüßen würde. Und sie hatte guten Grund, ihn zu fürchten. Er konnte sich kaum an etwas erinnern. Die Erinnerung an Verrat, Schmerz und Zorn war fast alles, was er hatte, und deshalb hatte er sich bei Sheas Umwandlung so ungeschickt angestellt -
bei allem, was er tat!
Das Reh regte sich, kam unbeholfen auf die Beine und taumelte unsicher in die Freiheit des Waldes hinaus.
Jacques hätte gern alles Blut der Tiere getrunken, weil er jeden Tropfen Lebenssaft brauchte, den er kriegen konnte, aber dann hätte Shea ihn für ein Monster 153
gehalten. Sein Körper stimmte sich auf ihren ein, er verlangte danach, sie zu sehen und zu riechen, sie zu berühren. Vielleicht war er ein Monster. Er wusste wirklich überhaupt nichts mehr, nur, dass er Shea brauchte.
Shea wanderte ziellos herum, bis sie an nichts anderes mehr als an Jacques denken konnte. Die Leere in ihrem Inneren klaffte wie ein tiefer schwarzer Abgrund. Ihre Haut prickelte vor Verlangen, in ihrem Inneren herrschte Chaos, und sie sehnte sich so sehr nach seiner Nähe, dass sie völlig erschöpft davon war, diesen Drang ständig zu unterdrücken.
Was, wenn ihm etwas passiert war? Wieder schlich sich der Gedanke ungebeten und unerwünscht ein, und das Gefühl von Isolation verstärkte sich so sehr, dass es zu einer Bedrohung wurde. Schmerz stieg in ihr auf, hielt sie gefangen, verjagte Logik und Vernunft und riss quälende Wunden auf. Shea konnte nicht mehr, und sie wusste es. Ob es ihr Stolz nun zuließ oder nicht - ihr blieb nichts anderes übrig, als zurückzugehen. Es war nicht nur demütigend, sondern auch beängstigend. Jacques hatte in kurzer Zeit mehr Macht über sie gewonnen, als sie je für möglich gehalten hätte. Diese Tatsache musste sie einstweilen akzeptieren.
Langsam und zögernd und mit bangen Vorahnungen ging sie zurück, doch mit jedem Schritt, der sie näher zur Hütte und zu Jacques brachte, wurde ihr leichter ums Herz. Am Rand der Lichtung vor ihrem Haus ruhten drei große Rehe unter den schwankenden Asten eines Baumes. Shea blieb einen Moment stehen, um die Tiere zu beobachten. Ihr war durchaus bewusst, was hier 154
passiert war. Dann trat sie auf die Terrasse und ging nach kurzem Zögern ins Haus.
Jacques lag regungslos auf dem Bett. Seine schwarzen Augen waren weit geöffnet und unverwandt auf ihr Gesicht gerichtet. Wieder hatte Shea das Gefühl, in diesen geheimnisvollen schwarzen Tiefen zu versinken.
Er streckte eine Hand nach ihr aus. Sie wollte nicht zu ihm gehen, doch sie tat es, weil sie nicht anders konnte.
Sie musste zu ihm gehen. Ein Teil ihres Gehirns versuchte, die Gründe dafür zu analysieren, aber sie ging, ohne sich gegen den starken Druck zu wehren.
Seine unerwartet warmen Fingerschlossen sich um ihre
Weitere Kostenlose Bücher