Karparthianer 02 Dunkle Macht des Herzens
dauerte eine Weile, bis ihr bewusst wurde, dass sie barfuß war und mit ihren nackten Füßen nicht ein einziges Mal auf einen trockenen Zweig oder kleinen Stein trat. Sie schien den Boden eher zu streifen, statt ihn richtig zu berühren. Ihre Lungen arbeiteten einwandfrei, und kein Brennen verriet den Bedarf nach Sauerstoff. Sie spürte nur Hunger, einen scharfen, nagenden Hunger, der mit jedem Schritt größer wurde.
Shea verfiel in einen stetigen Trab und hob ihr Gesicht zu den Sternen empor. Alles um sie herum war von einer überwältigenden Schönheit. Der Wind brachte Gerüche und Geschichten mit. Junge Füchse in einem Bau, zwei Rehe in der Nähe, ein Kaninchen im Unterholz.
Neben einem kleinen Bach blieb Shea abrupt stehen.
Sie brauchte einen Plan. Wie ein wildes Tier ziellos 146
herumzurennen, war einfach lächerlich. Ihre Hände fanden zu einem Baumstamm, und während ihre Fingerspitzen über die knorrige Rinde glitten, hörte sie den Saft wie Blut durch den Baum fließen. Sie erkannte jedes Insekt, das in das Holz eindrang und sich dort ein Zuhause suchte.
Shea ließ sich auf den weichen Boden sinken.
Schuldgefühle befielen sie. Sie hatte Jacques allein und schutzlos zurückgelassen. Sie hatte ihn nicht mit Nahrung versorgt. Shea stützte die Stirn auf ihre offenen Handflächen. All das war völlig verrückt. Nichts ergab einen Sinn. Hunger quälte sie wie ein bösartiges Monster, und sie konnte hören, wie verlockend die Herzen der Tiere im Wald schlugen.
Ein Vampir. Gab es solche Wesen tatsächlich? War sie eines von ihnen? Jacques hatte ihr Blut so selbstverständlich getrunken. Sie wusste, wie es in ihm aussah; er konnte unglaublich kalt und erbarmungslos sein und vor wildem Zorn brodeln. Es zeigte sich nie auf seinem Gesicht oder daran, wie er mit ihr sprach, aber es war da, schwelte unter der Oberfläche. Shea hob einen Stein auf und warf ihn in den plätschernden Bach.
Jacques. Was sollte sie bloß mit ihm machen? Ihr Körper priekelte ebenso vor Unbehagen wie ihr Geist, und sie verspürte Jen überwältigenden Drang, mit ihm in Verbindung zu treten und sich zu vergewissern, dass mit ihm alles in Ordnung war. Ihr Geist versuchte, all das zu begreifen, das Unmögliche zu glauben. Er war ein Wesen, das sich völlig von normalen Menschen unterschied. Sie war nicht wie er, doch ihr Vater musste es gewesen sein.
»Was glaubst du, Shea?«, wisperte sie. »Dass er ein 147
Vampir ist? Du glaubst, dass dieser Mann wahr und wahrhaftig ein Vampir ist? Du hast den Verstand verloren.«
Ein Schauer durchlief ihre schlanke Gestalt. Jacques hatte behauptet, ihr Blutaustausch hätte sie miteinander vereint. War es ihm irgendwie gelungen, dass sie genauso wie er wurde? Shea fuhr sich mit der Zunge durch die Mundhöhle, um ihre Zähne abzutasten. Sie schienen unverändert zu sein, klein und gerade. Hunger brannte in ihrem Magen.
Im selben Moment konnte sie den Herzschlag eines kleinen Kaninchens hören. Ihr Herz jubelte. Eine wilde, animalische Freude erfüllte sie, als sie sich ihrer Beute zu wandte. Unter ihrer Zunge waren lange Reißzähne zu spüren, scharf und hungrig.
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Kapitel 5
Jacques wusste es sofort, als Shea die Wahrheit erkannte.
Er hörte ihr wildes Herzklopfen, ihren stummen Schrei des Aufbegehrens. Sie hielt sich für einen Vampir. Und ihn ebenfalls. Welche Schlussfolgerung sollte sie anhand so weniger Informationen auch ziehen? Ihre Gedanken waren verzweifelt, sogar lebensbedrohlich. Er lag ganz still und sammelte seine Kräfte, falls es notwendig werden sollte, sie davon abzuhalten, eine furchtbare Fehlentscheidung zu treffen. Er wartete einfach ab und überwachte ihre Gedanken und die verräterischen Reaktionen ihres Körpers.
Allein zu sein, war an sich schon eine Art Folter.
Jacques hätte es nicht ertragen, wenn sein Geist nicht wie ein Schatten in Shea verharrt hätte. Schweiß brach an seinem Körper aus und überzog seine Haut mit einem dünnen Film. Sein Instinkt drängte ihn, Shea an seine Seite zurückzuholen, und seine Kraft nahm ständig zu, aber irgendetwas in ihm wollte, dass sie von selbst zu ihm zurückkam.
Was hatte sie zu ihm gesagt? Ihre Mutter war Irin.
Shea glaubte nicht, dass sie so wie er war. Was, wenn das stimmte und er sie unabsichtlich umgewandelt hatte?
Diese Möglichkeit hatte Jacques noch nie in Betracht gezogen. Ihre Bindung war stark und überschritt alle menschlichen Grenzen. Jacques war davon ausgegangen, dass er Shea schon immer gekannt
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