Karparthianer 02 Dunkle Macht des Herzens
»Was genau soll das heißen?«
Die Bindung des Blutes ist sehr stark. Ich bin in deinem Geist, so wie du in meinem bist. Es ist uns unmöglich, einander zu belügen. Ich fühle, was du fühlst, und kenne 143
deine Gedanken, genauso wie du meine kennst.
Sie schüttelte den Kopf. »Das mag für dich zutreffen, aber nicht für mich. Ich kann manchmal deine Schmerzen spüren, doch deine Gedanken kenne ich nie.«
Das liegt daran, dass du nicht geistig mit mir verschmelzen willst. Dein Geist sucht häufig die Nähe des meinen, doch du lässt es nicht zu. Ich nehme die Verbindung zu dir auf, um dir Unbehagen zu ersparen.
Shea konnte nicht bestreiten, was er sagte. Sie spürte oft, wie sich ihr Geist seinem zuwandte. Verstört durch dieses unerwünschte und fremdartige Gefühl, hielt sie in diesen Situationen an ihrer eisernen Disziplin fest, etwas, das sie ganz unbewusst tat, um sich zu schützen. Sowie sich das Verlangen nach Nähe zu ihm in ihr regte, verband sich Jacques mit ihrem Bewusstsein. Sie holte tief Luft und ließ sie langsam wieder heraus. »Du weißt offensichtlich mehr als ich über das, was hier vorgeht, Jacques. Sag es mir.«
Karpatianische Gefährten sind für alle Ewigkeit aneinander gebunden. Der eine kann ohne den anderen nicht existieren.
Wir geben einander Halt. Du bist das Licht in meiner Dunkelheit. Wir brauchen ständig die Nähe zueinander.
Shea wurde blass, und ihre Beine gaben unter ihr nach.
Sie setzte sich abrupt auf den Boden. Ihre Mutter! Ihr Leben lang hatte sie ihrer Mutter verübelt, eine Art Schattendasein zuführen. Wenn Jacques die Wahrheit sagte
- und irgendetwas in ihr befürchtete, dass es so war -, war dann genau das ihrer Mutter passiert? Hatte Jacques sie, Shea, zu demselben grausamen Schicksal verurteilt?
Sie tastete unsicher nach der Wand, stützte sich ab und hievte sich hoch. »Ich weigere mich, das zu glauben. Ich bin nicht deine Gefährtin. Ich bin keine Bindung 144
eingegangen und werde es auch nicht tun.« Sie schob sich an der Wand entlang zur Tür.
Shea, nicht! Es war keine Bitte, eher ein scharfer Befehl.
Seine harten Züge wirkten starr und unversöhnlich.
»Ich lasse so etwas nicht mit mir machen. Es ist mir egal, ob du ein Vampir bist. Triff lieber gleich die Entscheidung, mich zu töten, Jacques, denn eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«
Du hast nicht die geringste Vorstellung von Macht, Shea, oder davon, wie man sie gebraucht oder missbraucht. Seine Stimme war eine leise Drohung, und bei seinem Tonfall lief es ihr eiskalt über den Rücken. Stell dich nicht gegen mich!
Sie hob ihr Kinn. »Das Leben meiner Mutter war vergeudet und meine Kindheit die Hölle. Falls der Mann, der mein Vater war, so wie du war und sie irgendwie an sich gebunden hat, um sie dann zu verlassen . . . « Sie brach ab und holte tief Luft, um sich wieder zu fassen.
»Ich bin stark, Jacques. Niemand wird mich besitzen oder kontrollieren oder missbrauchen. Ich werde mich nicht wegen eines Mannes umbringen. Und ich würde nie mein Kind allein lassen, während ich selbst zu einer leeren Hülle werde.«
Jacques konnte den Schmerz spüren, den sie als Kind erlitten hatte. Ihre Erinnerungen waren eindringlich und erschütternd. Sie war völlig allein und ohne jede Hilfe oder Unterstützung gewesen, und wie jedes Kind hatte sie sich selbst die Schuld an ihrer Isolation gegeben. Sie hatte geglaubt, man könne sie nicht lieben, weil sie zu andersartig war. Sie hatte ihre Gefühle ausgeschaltet, weil es so sicherer war, und sich angewöhnt, sich von ihrem Verstand leiten zu lassen, wenn sie sich in 145
irgendeiner Weise verängstigt oder bedroht fühlte.
Shea schob sich rückwärts zur Tür, den Blick immer noch auf ihn gerichtet. Jacques bemühte sich, seinen dunklen Zorn, den Wunsch nach Vergeltung zu unterdrücken, aber es war unmöglich, seine schwelenden Empfindungen vor ihr zu verbergen. Dafür war sie ihm jetzt geistig viel zu nahe. Jacques zog sich einfach schweigend aus ihrem Bewusstsein zurück und wandte das Gesicht ab.
Shea wirbelte herum und rannte hinaus. Tränen liefen ihr übers Gesicht, Tränen um ihre Mutter und um sich selbst. Sie weinte nie, niemals. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass Tränen nichts nützten. Wie hatte sie so dumm sein können zu glauben, sie könnte Dinge in den Griff bekommen, die sie nicht verstand?
Sie lief sehr schnell, und ihr schlanker, graziler Körper setzte lautlos über morsches Holz und moosbewachsene Felsen. Es
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